Der Spalt in der Jalousie

In der Morgenstunde erspähe ich den neuen Tag durch einen schmalen Spalt in der noch geschlossenen Jalousie. Ein kurzer Blick durch die Öffnung, in das Grau eines sonnenlosen Tages, lässt mich zu dem Entschluss kommen, mich wieder schlafen zu legen, die Augen zu schließen, bis mich ein Alptraum oder ein Bedürfnis erwachen lässt.

Schlaflosigkeit ist das Schlimmste für alle, die nicht mehr aufwachen wollen, weil sie nicht bei klarem Verstand über ihre Alpträume nachdenken wollen. Der Spalt muss durchschritten werden – oder er muss sich schließen. Ein ewiger Blick durch die Öffnung auf etwas, dass die Angst vor lauernder Gefahr, vor einem jederzeit todbringenden (oder tödbaren) Leben nährt, ist unerträglich.

Biografien und Tagebücher

Tagebuch schreiben erscheint mir in diesen Wochen wieder als ein wenig zwecklos. Die Gedanken, die man darin aufschreibt, sind doch allein Ansichten, die man nur für kurze Dauer. Nichts, was im Fluss des Denkens Bestand hätte. Schlägt man, was selten genug vorkommt, ein paar Seiten in diesem Buch zurück, wird man sich vielleicht über das zuvor Geschriebene wundern, vielleicht sogar vor Scham erschaudern. Es bleibt nur Weniges, was Bestand hat, aber selbst das, was bestehen bleiben kann, ist meist banal. Das Spontane, die Egozentrik, das Banale, die Selbstverhaftung versperren das, was wahr ist und das, was war. Die vermeintliche Authentizität ist ein Betrug. Vielleicht sollten die Menschen, denen man im Leben begegnet, ein Tagebuch über denjenigen schreiben, der sich ein solches wünscht. Sie sollten alle Vorstellungen, Vorurteile, Wahrnehmungen usw., die sie bei der Begegnung mit dem Menschen hatten, der sich ein besonders authentische Biografie wünscht, niederschreiben. Vielleicht sollten sogar all die, die ihn überhaupt nicht kennen, ein Tagebuch über den Unbekannten schreiben. Und vielleicht käme das einer “Wahrheit” näher. Wahrscheinlich wäre das Ergebnis für den “Biografierten” sehr unbefriedigend, aber das Ergebnis wäre wohl ein wenig aufrichtiger. “Selbsterkenntnis” durch ein Tagebuch zu erhalten, das ist doch wirklich sehr unwahrscheinlich. Es gibt dem Schreibenden vielmehr die Möglichkeit, sich selbst in eine Schublade zu stecken. Wem sollten wir es schließlich zumuten, eine Biografie zu schreiben? Ein biografische Notiz ist schon zu viel verlangt.

Nun gut, wir gehen jetzt einmal davon aus, dass man sich einen eigenen Biografen leisten kann. Der teuer bezahlte Biograf, finanziell abhängig vom Auftraggeber, muss sich beim Schreiben beschneiden. Er muss, möchte er einen gewinnbringend arbeiten, die Person in einem möglichst positiven Licht erscheinen lassen, welches der Öffentlichkeit gefällt. Das ist er der Biograf sich selbst und dem Beschriebenen schuldig. Selbst wenn die wohlmeinende Darstellung nicht gewünscht wäre, würde sich der Biograf darum bemühen, dass der Dargestellte mit der Verschriftung seines Lebens zufrieden ist. Und selbst, wenn keiner dem Biografen einen Auftrag gibt: Der Schreibende ist nie unabhängig. Immer gibt er auch etwas von seiner Welt und seinen Wünschen hinzu, selbst wenn er noch so sehr versuchte, sich zum Verschwinden zu bringen.

“Wahres” kann man scheinbar nur schreiben, wenn man sich ein Stück weit vom Subjekt, auch von sich selbst, entfernt. Wenn man ein Stückweit versucht, aus sich heraus zu treten und der Sprache selbst ihren Raum gibt und ihre Fähigkeit, Realitäten zu erzeugen anerkennt. Und wenn man auch ihr, der Sprache, genug Skepsis entgegen bringt.

Einsamkeit

Emotionale Einsamkeit, ein Leben ohne die gegenseitige Freude über einen Augeblick des Einverständnisses, ohne Zärtlichkeit, ohne Liebe, ohne den Anderen, für den man wichtig ist oder wertvoll ist, das ist unerträglich.
Ein Recht auf Liebe, kann scheinbar nur jemand fordern, der einen Berechtigungsschein für sie hat. Wodurch man ihn erwerben kann, welche Instanz ihn ausstellt, das erscheint oft geheimnisvoll und rätselhaft.
Ohne Liebe ist man ausgeschlossen von der ganzen Welt.



Was ist das Geheimnis hinter dem Begehrenswert und dem Gebrauchswert? Wer schätzt den eigenen Wert? Wer erstellt die Expertisen? Wo erfrage ich den aktuellen Kurs meines Liebenswerts? Mit Wertschätzungen allein kann man nicht lieben. Aber wo bleibt die Liebe?

Wünsche

Jemandem eine Bitte oder einen verzweifelten Wunsch abzuschlagen, kann sich so grausam auswirken, wie jemandem den Kopf abzuschlagen. Dem Anderen das Wort abzuschneiden, es zu beschneiden, zu verstümmeln, kann sich sogar wie ein Mord auswirken.

Über-sehen

Gerade ist mir beim Blick aus meinem Hinterhoffenster aufgefallen, dass einer meiner Nachbarn sich ein großes Poster des Berliner Fernsehturms an die Wand geheftet hat. Die Idee sich – mitten in Berlin – ein großformatiges Bild des überall und weithin sichtbaren Fernsehturms an die Wand zu hängen, empfinde ich als völlig absurd! Besonders, weil dieser riesige Phallus auf jedem Foto, dass man auf den Straßen Berlins schießt, fast unweigerlich erscheint. Immer wieder schreit dieses gigantische Bauwerk um Aufmerksamkeit, drängt sich wie ein freches Kind ohne jedes Benehmen auf das Foto. Am liebsten möchte man den Turm aus allen Fotos, die man in Berlin gemacht hat, herausschneiden. Doch auch durch dieses Verhalten bekäme der Turm zuviel Aufmerksamkeit, die ihm nicht gebührt. Denn die ausgeschnittene Leerstelle des Bildes würde ihm den Rang eines verflossenen Geliebten geben, dem man sich auf diese Weise zu entledigen sucht und schon bei diesem Vorgang des Herausschneidens darum weiß, dass man die Leerstelle über kurz oder lang wohl auch erst einmal nicht wird füllen können. Der Blick in meinen schäbig-grauen Hinterhof, auf die Fenster der Nachbarwohnungen galt mir bis heute als Entspannung für meine turmübersättigten Augen. Ich unterstelle meinem Nachbarn jetzt Boshaftigkeit, vielleicht schützt ihn das Bild vor allzu viel Neugier. Man kann sich über-sehen, an dem, was man nicht übersehen kann.