Über-sehen
Gerade ist mir beim Blick aus meinem Hinterhoffenster aufgefallen, dass einer meiner Nachbarn sich ein großes Poster des Berliner Fernsehturms an die Wand geheftet hat. Die Idee sich – mitten in Berlin – ein großformatiges Bild des überall und weithin sichtbaren Fernsehturms an die Wand zu hängen, empfinde ich als völlig absurd! Besonders, weil dieser riesige Phallus auf jedem Foto, dass man auf den Straßen Berlins schießt, fast unweigerlich erscheint. Immer wieder schreit dieses gigantische Bauwerk um Aufmerksamkeit, drängt sich wie ein freches Kind ohne jedes Benehmen auf das Foto. Am liebsten möchte man den Turm aus allen Fotos, die man in Berlin gemacht hat, herausschneiden. Doch auch durch dieses Verhalten bekäme der Turm zuviel Aufmerksamkeit, die ihm nicht gebührt. Denn die ausgeschnittene Leerstelle des Bildes würde ihm den Rang eines verflossenen Geliebten geben, dem man sich auf diese Weise zu entledigen sucht und schon bei diesem Vorgang des Herausschneidens darum weiß, dass man die Leerstelle über kurz oder lang wohl auch erst einmal nicht wird füllen können. Der Blick in meinen schäbig-grauen Hinterhof, auf die Fenster der Nachbarwohnungen galt mir bis heute als Entspannung für meine turmübersättigten Augen. Ich unterstelle meinem Nachbarn jetzt Boshaftigkeit, vielleicht schützt ihn das Bild vor allzu viel Neugier. Man kann sich über-sehen, an dem, was man nicht übersehen kann.