Wünsche

Jemandem eine Bitte oder einen verzweifelten Wunsch abzuschlagen, kann sich so grausam auswirken, wie jemandem den Kopf abzuschlagen. Dem Anderen das Wort abzuschneiden, es zu beschneiden, zu verstümmeln, kann sich sogar wie ein Mord auswirken.

Über-sehen

Gerade ist mir beim Blick aus meinem Hinterhoffenster aufgefallen, dass einer meiner Nachbarn sich ein großes Poster des Berliner Fernsehturms an die Wand geheftet hat. Die Idee sich – mitten in Berlin – ein großformatiges Bild des überall und weithin sichtbaren Fernsehturms an die Wand zu hängen, empfinde ich als völlig absurd! Besonders, weil dieser riesige Phallus auf jedem Foto, dass man auf den Straßen Berlins schießt, fast unweigerlich erscheint. Immer wieder schreit dieses gigantische Bauwerk um Aufmerksamkeit, drängt sich wie ein freches Kind ohne jedes Benehmen auf das Foto. Am liebsten möchte man den Turm aus allen Fotos, die man in Berlin gemacht hat, herausschneiden. Doch auch durch dieses Verhalten bekäme der Turm zuviel Aufmerksamkeit, die ihm nicht gebührt. Denn die ausgeschnittene Leerstelle des Bildes würde ihm den Rang eines verflossenen Geliebten geben, dem man sich auf diese Weise zu entledigen sucht und schon bei diesem Vorgang des Herausschneidens darum weiß, dass man die Leerstelle über kurz oder lang wohl auch erst einmal nicht wird füllen können. Der Blick in meinen schäbig-grauen Hinterhof, auf die Fenster der Nachbarwohnungen galt mir bis heute als Entspannung für meine turmübersättigten Augen. Ich unterstelle meinem Nachbarn jetzt Boshaftigkeit, vielleicht schützt ihn das Bild vor allzu viel Neugier. Man kann sich über-sehen, an dem, was man nicht übersehen kann.

Beschwerde

Nach einigen Monaten greife ich wieder zu diesem kleinen schwarzen Buch, das für Aufzeichnungen bereit liegt. Ich blättere mich durch das Gekritzel und muss dabei feststellen, dass einigen Texten in meiner Abwesenheit großes Unglück wiederfahren ist. Sie haben sich verändert, sind verzerrt und unleserlich geworden. Mit der Zeit haben sie großen Schaden genommen. Schuld daran ist allem Anschein nach mein Schreibgerät gewesen: der Stabilo point 88 (sic!) fineliner 0,4 in Schwarz. Als Ergebnis seiner monatelangen zerstörerischen Arbeit am Papier und all der Barbarei präsentiert er mir nur ein blutrotes Schlachtfeld. Seine Hinterlassenschaft ist eine verschmierte purpurne Schrift, die sich durch das Papier bis auf die Rückseite eines Blattes gefressen hat. Die dunklen Buchstaben auf der Vorderseite vermischen sich mit der rückwärtigen Schrift. Was ungleichzeitig war, will sich nun zum Anschein des Gleichzeitigen vereinen. Dieses Verschwimmen der Schrift mag zum Teil der hohen Luftfeuchtigkeit der letzten Monate geschuldet sein. Alles ist jetzt äußerst schwer entzifferbar. Wie lange wird es dauern, bis nichts mehr von der vorgängigen Schrift, die sich einmal dort manifestieren wollte, zu lesen ist; die Schrift sich schließlich wechselseitig austilgt und zerfrisst?

Vielleicht sollte ich mich beschweren…

Ich sollte die Firma, die diesen Stift herstellt, anschreiben und zur Verantwortung ziehen! Sie sollen sich dann als Angeklagte verteidigen!

Ich sollte mich also beschweren…

Wieso beschwert man eigentlich sich? Eigentlich sollte man die Beschwerde auf jemand anderen legen, damit sie ihn beschwert, ihn mit schwerer Schuld belädt. Dann hätte man wenigstens ein bisschen Genugtuung für den Schaden. Nein, eigentlich beschwert man nur sich selbst mit einer Beschwerde. Beschwerden tragen sozusagen immer schon die Selbstbeschwerung in sich. Ein Schuldgefühl, das auf dem Beschwerdeträger lastet, ist immer schon eingebaut.

Die Nachteile des Beschwerens liegen auf der Hand:

1. Es gibt Ärger.

2. Man gilt als unzufriedener, unbelehrbarer ständiger Nörgler. Mit einer Beschwerde stellt man sich als bedrückt, beschwert und beklagenswert dar. Man gibt keine gute Figur ab. (more…)