Im See des Verstummens*

* Wäre die Metapher nicht so verbraucht, hätte ich “Meer des Schweigens” geschrieben. Außerdem stört mich der Gleichklang mit der sogenannten “schweigenden Mehrheit”, die uns auf Zuruf im Alltagsdiskurs immer wieder als sofort einleuchtende “Wahrheit” aufgedrängt wird.

Wenn man aus dem See des Verstummens für einen Moment auftaucht, schnappt man nach Atemluft, man braucht eine Zeitlang, um wieder sprechen zu können, um irgendetwas zur Sprache zu bringen. Manches Wort erstickt, ist unverständlich, manches Wort findet nicht mehr den Weg über die Stimmbänder und die Zunge nach Draußen. Und es ist überaus fraglich, ob jemand gerade draußen, am Ufer des Sees steht, wenn man als Ertrinkender nach Hilfe ruft.

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Nicht schreiben (3)

Alles, was ich noch schreiben kann, sind Entschuldigungen für das Schreiben und das Nicht-Schreiben. Alles ist Fragment des Nicht-Schreibens, das heißt ein sprachlicher Ausdruck dessen, was besser verschwiegen sein sollte.

Ein Geist

EIN GEIST

Geht es?
Wohin geht es?
Geht es los?
Geht es an?
Wen geht es an?
Wie geht es aus?
Wo geht es um?
Wen umgeht es?
Vergeht es?
Noch einmal:
Wohin geht es?
Geht es nicht los?
Geht es nicht nah?
Nah geht es?
Es geht nah.
Es blieb als
Es gegangen ist.
Es ging nah
Als es ging.
Es geht weiter
Bis es nicht mehr geht.
Es ist das,
Was nicht zusammen geht.
Es ist der Riss,
Den niemand zusammen näht.

21.02.2007
Marc-Christian Jäger

Urheber dieses Textes ist Marc-Christian Jäger. Es gilt das Urheberrecht. Keine Veröffentlichung ohne vorherige Genehmigung des Autors.

Auf dem Kopf gehen

Manchmal wünscht man sich wie Büchners Lenz “auf dem Kopf gehn” zu können, so dass man, wie Celan in seiner Preisrede sagte, “den Himmel als Abgrund unter sich” hat. Wenn einem die Welt als verkehrt und falsch erscheint, eigentlich als “ver-rückt” und auf den Kopf gestellt ist, dann muss man sich zunächst auf den Kopf stellen und sie dann kopfüber durchschreiten, um sich in die Perspektive der anderen Menschen hineinversetzen zu können oder um die eigene Sicht der Welt zu überprüfen. Aber das “Auf-dem-Kopf-Gehen” wäre eine äußerst schmerzhafte Prozedur. Vom Kopffüßer zum modernen Menschen, weg vom Boden, entfernt vom Meer, hinaufgewachsen in den Himmel, war es ein langer Weg. Selbstbewusst und erhobenen Hauptes feiert der vernünftige Mensch seine vertikale Sichtweise der Welt. Dabei hat er die Perspektive aus den unteren Regionen verdrängt. Für denjenigen, der den gewohnten Gang der Dinge als ein schmerzhaftes “Auf-dem-Kopf-Gehen” empfindet und für den dieser Gang einen ewigen Blick in den Abgrund bedeutet, der muss über die “aus seiner Sicht” verkehrte Welt verzweifeln.

Ein Liebesbrief

Es war einmal ein junger Mann, der wollte den schönsten Liebesbrief aller Zeiten für seine Geliebte schreiben. Das Haus der Frau, der er diesen Brief zuwidmen wollte und die er über alle Maßen liebte, war nicht weit entfernt. Sie waren nicht durch die räumliche Entfernung getrennt.

Der Mann hätte jederzeit und ganz unkompliziert bei ihr vorbei schauen können. Es hätte nur eines Blickes, einer Geste bedurft, um ihr zu zeigen, was er für sie empfand. Die Liebe war noch frisch; so frisch wie ein duftender Apfelkuchen. Er kannte sie nicht gut, wusste nicht viel über sie, aber er wusste aus einem inneren Gefühl heraus, dass sie die Richtige sein müsse. In seinen Gedanken prägte er ihr das auf, was er in ihr sah. Es war das, was er ihr schreiben wollte: Was er in ihr sah. (more…)