Im See des Verstummens*

* Wäre die Metapher nicht so verbraucht, hätte ich “Meer des Schweigens” geschrieben. Außerdem stört mich der Gleichklang mit der sogenannten “schweigenden Mehrheit”, die uns auf Zuruf im Alltagsdiskurs immer wieder als sofort einleuchtende “Wahrheit” aufgedrängt wird.

Wenn man aus dem See des Verstummens für einen Moment auftaucht, schnappt man nach Atemluft, man braucht eine Zeitlang, um wieder sprechen zu können, um irgendetwas zur Sprache zu bringen. Manches Wort erstickt, ist unverständlich, manches Wort findet nicht mehr den Weg über die Stimmbänder und die Zunge nach Draußen. Und es ist überaus fraglich, ob jemand gerade draußen, am Ufer des Sees steht, wenn man als Ertrinkender nach Hilfe ruft.

Manchmal ist es scheinbar besser, jemandem im Schweigen ertrinken zu lassen, weil man sich vor der Sprache eines Menschen fürchtet, der es hat soweit kommen lassen. Einer, der sich wohlmöglich selbst in diese Lage gebracht hat, und bei dem ein Rettungsversuch auch das unberechenbare Wagnis mit sich zieht, selbst hinab in den Schlund des morastigen Sees gerissen zu werden. So weit (und so tief) möchten die anderen nicht sinken. Von der fragmentarischen Sprache, dem verschluckten Aufschrei, will man nichts hören, wenn man sich nach dem Perfekten, dem Vollendeten sehnt. Nicht jeder kann diese Sprache hören. Und noch wenigere können sie verstehen.

Hin und wieder treibt jemanden die Sensationslust an den See, man möchte dem Ertrinkenden endlich sterben sehen. Die Lust am Scheitern des Anderen versichert die, welche nicht versinken müssen und am befestigten Ufer stehen, dass ihre Sprache und ihr Leben ungefährdet sind und bleiben werden. Oft sind es diejenigen, die den Ertrinkenden selbst in den See geworfen haben, welche nachts am Ufer stehen und das verzweifelte Rudern und das unverständliche, nutzlose Gestammel des sterbenden Sprache genießen.

Nur ein Zufall oder der Glücksfall einer Entdeckung (oder vielleicht Wiederentdeckung) durch jemanden, der diese Sprache durch zuhörendes Lernen kennt oder diese Sprache versteht, weil er die Erfahrung aus eigener Erfahrung kennt und sich ihrer wieder erinnert, wäre in der Lage, diese Sprache vor dem völligen Verstummen zu retten.

One Response to “Im See des Verstummens*”

  1. Sadie

    Gut zu Wissen. Kommt hier noch ein weiterer Beitrag? Würde sehr gern einiges mehr darüber erfahren. Kannst du mir per E-Mail eine Antwort geben?

    Hätte ich gerne gemacht, wenn Deine Mail-Adresse gestimmt hätte.

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