Ein Liebesbrief
Es war einmal ein junger Mann, der wollte den schönsten Liebesbrief aller Zeiten für seine Geliebte schreiben. Das Haus der Frau, der er diesen Brief zuwidmen wollte und die er über alle Maßen liebte, war nicht weit entfernt. Sie waren nicht durch die räumliche Entfernung getrennt.
Der Mann hätte jederzeit und ganz unkompliziert bei ihr vorbei schauen können. Es hätte nur eines Blickes, einer Geste bedurft, um ihr zu zeigen, was er für sie empfand. Die Liebe war noch frisch; so frisch wie ein duftender Apfelkuchen. Er kannte sie nicht gut, wusste nicht viel über sie, aber er wusste aus einem inneren Gefühl heraus, dass sie die Richtige sein müsse. In seinen Gedanken prägte er ihr das auf, was er in ihr sah. Es war das, was er ihr schreiben wollte: Was er in ihr sah.
Der Mann begann zu schreiben, er wollte alles schreiben, ihr alles mitteilen, was er in ihr sah. So vergingen nicht bloß Stunden, sondern Tage und, wie das in solchen Geschichten gemeinhin üblich ist, Jahre. Der Mann verließ das Haus nicht mehr, wollte keinen mehr hineinlassen, ging nicht mehr ans Telefon oder zum Briefkasten. Wenn seine Geliebte ihn angerufen hätte, wären keine Worte über seine Lippen gekommen, die ihr gerecht geworden wären. Von den beiden Liebenden wollte er der Erste sein, der sich mit Liebesworten meldet. Er wollte den Anfang machen und er musste ihr die großen Gefühle schreiben, die sich kaum beschreiben lassen. Hätte ihn zuerst eine Nachricht von ihr erreicht, wäre seine ganze Mühe umsonst gewesen.
Was er nicht wusste war, dass seine Geliebte, aufgrund seiner langen Abwesenheit und seiner dauerhaften Ablehnung eines Kontakts, sich einen neuen Mann ausgesucht und sich scheinbar unsterblich verliebt hatte.
Er selbst war nach zehn Jahren des Schreibens endlich zu einem Ende mit dem Liebesbrief gekommen, den er nicht abschickte. Denn er wusste, dass es keine Liebesbotschaft für einen anderen war, sondern eine an sich selbst. Er widmete den Brief um, setzte seinen Namen an das Ende und den Anfang des Briefs. Er war bereit, sich in das Schöne neu zu verlieben.