8. Die Normalisierungsmacht:

Die "Normalisierungsmacht" (ÜuS 237) der Disziplin löst die Macht des Gesetzes, der
Rechtsregel als Resultat eines souveränen Willens (vgl. WzW 171), ab. Disziplinen ge-
horchen der "natürlichen" Regel, dem Kodex der Normalisierung (DdM 93). Foucault
stellt bei dieser Transformation fest, "daß die Verfahren der Normalisierung die Verfahren
des Gesetzes immer mehr kolonisieren" (DdM 94, vgl. MdM 84). Die juristische Konfron-
tation von Schuld und Unschuld wird zunehmend durch das humanwissenschaftliche Ge-
gensatzpaar Anormal und Normal verdrängt (vgl. ÜuS 248f).

 

Ein Kontroll- und Überwachungssystem hierarchisiert, klassifiziert und qualifiziert die
Menschen anhand von wissenschaftlich-diagnostischen Grenzwerten (vgl. MdM 84). Die
Norm sortiert und organisiert die Individuen. Wenn sich eine "Normalisierungsgesell-
schaft" (MdM 92) entwickelt, dann kommt es zum Aufstieg der Medizin, welche die
Wissenschaft vom Normalen und Pathologischen ist. Im 19. Jahrhundert wird der Medi-
ziner Herr über das Normale und das Anormale. Die Medizin macht sichtbar, was so lange
das verborgene, "verbotene und drohende Geheimnis geblieben war: Das Wissen vom
Individuum" (GdK 184). Sie ist keine von der Macht befreite, "wertfreie" Wissenschaft,
vielmehr ist der juristisch-medizinische Komplex eine kennzeichnende Form der Macht
(vgl. MdM 85).

 

Auch die Psychoanalyse wirkt in erster Linie durch Kontrolle und Normalisierung. Ein
Psychiater wird per Gesetz (in Frankreich 1838) zum Experten, der durch sein Wissen
Macht verliehen bekommt (vgl. MdM 120) und diese nicht nur auf Patienten, Straftäter
oder Gruppen ausübt; vielmehr erfaßt er die gesamte Gesellschaft. Prüfung und Inquisition
sind Instrumente zum Zwang und zur endlosen Einholung der Norm (vgl. ÜuS 291). Das
Kerkersystem mit seinen Normalitätslehren (z. B. Gewöhnung an Arbeit, Zeitrhythmus,
Überwachung) übernimmt die Rolle des Richters (vgl. ÜuS 292, WzW 171). Der ausge-
siebte und zu beurteilende anormale Abweichler steht verschiedenen "Normalitäts-
richtern" gegenüber: "Wir leben in einer Gesellschaft des Richter-Professors, des Rich-
ter-Arztes, des Richter-Pädagogen, des Richter-Sozialarbeiters; sie alle arbeiten für das
Reich des Normativen" (ÜuS 392). Die "Normalitätskontrollen" sind so sehr mit der
Medizin und der Psychiatrie verknüpft, daß ihnen dadurch eine "Wissenschaftlichkeit"
zukommt, des weiteren können sie sich auf den Justizapparat stützen, der ihnen zu einer
"Gesetzmäßigkeit" verhilft (vgl. ÜuS 382).

Dieser Macht-Wissen-Komplex wirkt z. B. dadurch, daß er geständige, gelehrige, dres-
sierte und normalisierte Delinquenten schafft (vgl. ÜuS 342), um sie dann mit Hafter-
leichterungen zu belohnen oder sie wegen guter Führung vorzeitig zu entlassen. Das Ge-
fängnis dient nicht der Resozialisierung der Strafgefangenen, sondern der Erzeugung
eines kriminellen Milieus (vgl. ÜuS 357). Auf diese Weise legitimiert die Disziplinar-
macht immer perfektere Repressions- und Überwachungsapparate. Die politisch unge-
fährliche Delinquenz wird eine "Ablenkungsanlage für die ungesetzlichen Gewinn- und
Machtschleichwege der herrschenden Klassen" (ÜuS 361). Professionalisierte Delin-
quenten dienen ihnen z. B. als Denunzianten, Lockspitzel (vgl. ÜuS 361), Streikbrecher,
Drogenhändler, Zuhälter (durch den Aufbau von Prostitution im 19. Jahrhundert) und
- nicht zuletzt - Polizisten (vgl. MdM 34ff). Der Mißerfolg der Delinquenz ist nützlich,
weil er Profit einbringt, die Macht festigt und ihr letztlich dazu verhilft, daß sich die
Arbeiterbewegung von den Delinquenten distanziert, um der Polizeirepression zu entge-
hen (MdM 62f). Damit soll das Proletariat davon abgehalten werden, den Aufstand zu wa-
gen und die Macht an sich zu reißen (vgl. MdM 66).

 

Der Strafapparat funktioniert als "Sortiermaschine" des Normalen und Anormalen (vgl.
MdM 111). Das Strafsystem als Disziplinarsystem zielt auf den Körper und dessen Ge-
wohnheiten ab. Der Begriff "Gewohnheit" wurde von vielen Vertragstheoretikern zur
Kritik von Autoritäten, Gesetzen und Institutionen genutzt (vgl. MdM 121). Seit dem 19.
Jahrhundert ist die Gewohnheit allerdings das, "dem man sich unterwerfen muß" (MdM
121), das, "wodurch die Individuen an den Produktionsapparat gebunden werden [...], das,
wodurch die Besitzlosen an einen Apparat gebunden werden, den sie nicht besitzen"
(MdM 122). Durch Instrumente des Zwangs, der Belehrung und Bestrafung von Gewohn-
heiten wird die Verhaltensnorm fabriziert. Es handelt sich dabei um "zwanghaft fixierte[s]
Verhalten, [...] starr reproduzierte Handlungsschemata." Die Disziplinargesellschaft hat
die Funktion der permanenten Normalisierung. Heute verzichtet die moderne Macht auf
die Grausamkeit souveräner Machtausübung:

 

Das, wodurch die Macht im 19. Jahrhundert wirkt, ist die Gewohnheit, die be-
stimmten Gruppen auferlegt wurde. Die Macht kann ihren Aufwand von früher
aufgeben. Sie nimmt die hinterhältige Form der Norm an, so verbirgt sie sich
als Macht und wird sich als Gesellschaft ausgeben [...]. Der Diskurs, der jetzt
die Disziplinarmacht begleiten wird, wird der sein, der die Norm begründet,
analysiert und spezifiziert, um sie präskriptiv zu machen. Der Diskurs des
Königs kann verschwinden und ersetzt werden durch den Diskurs dessen, der
die Norm angibt, dessen, der überwacht, der die Scheidung in das Normale
und das Anormale vornimmt, das heißt durch den Diskurs des Lehrers, des
Richters, des Arztes, des Psychiaters, schließlich und vor allem dem Diskurs
des Psychoanalytikers [...]. [H]eute ist an die Stelle des der Macht verbunde-
nen Diskurses ein normalisierender Diskurs getreten: der der Humanwissen-
schaften (MdM 123).

 

Gegenwärtig soll der Bevölkerung ein vernünftiges und ordentliches Leben durch Kon-
sumanreize eingeschärft werden, moralische Zwangsmaßnahmen sind kaum mehr nötig
(vgl. MdM 126). Das Gefängnis verliert durch soziale Normalisierungsnetze an Bedeu-
tung (vgl. ÜuS 395).

Die soziale Normierung entspricht der "industrielle[n] Normung", sie wirkt nicht nur
bestrafend, sondern auch belohnend. Individuen werden untereinander verglichen und
differenziert. Das Mindestmaß oder der Durchschnitt an Leistungen, Tätigkeiten und Ver-
haltensweisen in einem Vergleichsfeld wird einer Gesamtregel unterworfen. Die "Natur"
der Individuen - das Niveau - wird "quantifiziert und in Werten hierarchisiert" (ÜuS 236).
Grenze zur Einteilung des Unterschiedlichen ist das Anormale. Das totalisierende Straf-
system "wirkt vergleichend, differenzierend, homogenisierend, ausschließend. Es wirkt
"normend, normierend, normalisierend" (ÜuS 236). Konkurrenzen (z. B. von Schülern un-
tereinander), Prämien und Sanktionen mobilisieren das Begehren und tragen zur Lei-
stungessteigerung bei: "Das Verfahren der Homogenisierung, Quantifizierung und Norma-
lisierung eines Feldes erweist sich auf verschiedenen Gebieten wie Armee, Schule, Fabrik
als gleichermaßen operativ." Das Normale als Zwangsprinzip tritt seit dem 18. Jahrhun-
dert zu den anderen Mächten hinzu und erzwingt neue Grenzziehungen: Die Macht des
Gesetzes, des Wortes, des Textes, der Tradition wird von der Norm besetzt (vgl. ÜuS
237). Die Disziplinar- und Normalisierungsmacht erfaßt den Normalen genauso wie den
Anormalen. Wenn man diesen nicht-irren, nicht-straffälligen und normalen "Erwachsenen
individualisieren will, so befragt man ihn immer danach, was vom Kind noch in ihm
steckt, welches tiefe Verbrechen er eigentlich begehen wollte" (ÜuS 249). Die Familie,
die disziplinierende Modelle von anderen Institutionen übernimmt, wird zum entscheiden-
den Ort der Frage, was als normal und anormal zu gelten hat (vgl. ÜuS 277).

 

Foucaults Kategorie der "Norm" erscheint allerdings teilweise als recht vage. Oftmals
verwendet er den Begriff, der fixierte Verhaltensschemata kennzeichnen soll, in Zusam-
menhang mit "der moralischen Handlungsnorm" sowie mit dem "Begriff der sozialen Nor-
malität". Eindeutiger beschrieben ist die Kategorie des "Körpers", der "jenen Bereich
von Lebensäußerungen [zusammenfaßt], auf den sich die modernen Machttechniken mit
dem Ziel von Verhaltensnormen richten." Zudem erscheint es fraglich, ob es schon im
18. Jahrhundert den Begriff des "Anormalen" z. B. für die fünfte "Schandklasse" an der
école militaire gab (vgl. ÜuS 236). Das heißt freilich nicht, daß man die Abweichler
nicht disziplinierte und ausschloß.