Beschwerde

Nach einigen Monaten greife ich wieder zu diesem kleinen schwarzen Buch, das für Aufzeichnungen bereit liegt. Ich blättere mich durch das Gekritzel und muss dabei feststellen, dass einigen Texten in meiner Abwesenheit großes Unglück wiederfahren ist. Sie haben sich verändert, sind verzerrt und unleserlich geworden. Mit der Zeit haben sie großen Schaden genommen. Schuld daran ist allem Anschein nach mein Schreibgerät gewesen: der Stabilo point 88 (sic!) fineliner 0,4 in Schwarz. Als Ergebnis seiner monatelangen zerstörerischen Arbeit am Papier und all der Barbarei präsentiert er mir nur ein blutrotes Schlachtfeld. Seine Hinterlassenschaft ist eine verschmierte purpurne Schrift, die sich durch das Papier bis auf die Rückseite eines Blattes gefressen hat. Die dunklen Buchstaben auf der Vorderseite vermischen sich mit der rückwärtigen Schrift. Was ungleichzeitig war, will sich nun zum Anschein des Gleichzeitigen vereinen. Dieses Verschwimmen der Schrift mag zum Teil der hohen Luftfeuchtigkeit der letzten Monate geschuldet sein. Alles ist jetzt äußerst schwer entzifferbar. Wie lange wird es dauern, bis nichts mehr von der vorgängigen Schrift, die sich einmal dort manifestieren wollte, zu lesen ist; die Schrift sich schließlich wechselseitig austilgt und zerfrisst?

Vielleicht sollte ich mich beschweren…

Ich sollte die Firma, die diesen Stift herstellt, anschreiben und zur Verantwortung ziehen! Sie sollen sich dann als Angeklagte verteidigen!

Ich sollte mich also beschweren…

Wieso beschwert man eigentlich sich? Eigentlich sollte man die Beschwerde auf jemand anderen legen, damit sie ihn beschwert, ihn mit schwerer Schuld belädt. Dann hätte man wenigstens ein bisschen Genugtuung für den Schaden. Nein, eigentlich beschwert man nur sich selbst mit einer Beschwerde. Beschwerden tragen sozusagen immer schon die Selbstbeschwerung in sich. Ein Schuldgefühl, das auf dem Beschwerdeträger lastet, ist immer schon eingebaut.

Die Nachteile des Beschwerens liegen auf der Hand:

1. Es gibt Ärger.

2. Man gilt als unzufriedener, unbelehrbarer ständiger Nörgler. Mit einer Beschwerde stellt man sich als bedrückt, beschwert und beklagenswert dar. Man gibt keine gute Figur ab.

3. Der, den man beschweren möchte, kann sich seinerseits mit einer Beschwerde rächen. Ein Eklat, ein ewiger Zwist wird sich wohlmöglich daraus ergeben!

4. Man ist sich unsicher, ob derjenige, bei dem man sich beschwert, wirklich der Schuldige ist. Ein ganz unschuldiger, unbescholtener Genosse muss nun vielleicht herhalten, nur weil er meine Post lesen, meinen Anruf entgegennehmen muss. Am Ende war man vielleicht sogar selbst Schuld, ist nicht sachgemäß mit diesem Gegenstand umgegangen, hat vielleicht sogar unwillentlich zur schlimmen Sachlage beigetragen. Vielleicht hat man selbst ein beschwerenswürdiges Verhalten an den Tag gelegt. Man ist ja auch nicht immer perfekt. Das muss man schließlich zugeben und einsehen. Ein Schuft ist doch, wer sich über etwas beschwert, aber in Wahrheit selbst nicht alles richtig gemacht hat, in Wahrheit also – kurz gesagt – ein gedankenloser Pfuscher ist. Wenn das auffliegt, nicht auszudenken.

5. Ich weiß nicht genau, worin der Unterschied zwischen einem “Beschwerdeführer” und einem “Beschwerdeträger” besteht. Das ist verwirrend. Meine Unwissenheit steht allerdings dem Grundsatz entgegen, dass man sich gänzlich darüber im Klaren sein muss, welche Rolle man in einem solchen Fall wie diesem einzunehmen hat, falls es denn verschiedene Rollen sein sollten.

6. Eine Beschwerde anzuzetteln, ist auch mit einer gewissen Anstrengung, um nicht zu sagen Verausgabung, verbunden. Man beschwert sich mit Sorgen. Was wird beispielsweise auf die Beschwerde folgen? Selbst wenn die Beschwerde auf keine Ablehnung stößt, resultieren aus ihr meist nichts als Ärger und Schuldgefühle (z.B. wird eventuell jemand aufgrund der Klage einen Tadel bekommen). Die Beschwerde kann letztendlich Auslöser für eine Schwermut sein. Beschwerden machen schwermütig.

7. Über kurz oder lang wird man krank werden. Denn wer Beschwerden hat, hat vermutlich Krankheiten. Man macht sich mit seiner Beschwerde zum Außenseiter, der sich besser gleich selbst interniert, nicht auf die Straße geht, nicht mit mit den Leuten spricht, um sie nicht mit seiner beschwerlichen Schwermut anzustecken. Gerade jetzt sollte man es als Deutscher unterlassen herumzukränkeln und zu granteln, wenn man im Lande scheinbar wie aus heiterem Himmel, aber wohl doch nicht ganz zufällig, wiederentdeckt hat, dass man “ganz unverkrampft” und unbeschwert – ohne all die Bedenkenträger und Beschwerdeführer – feiern kann.

8. “Einfach so beschweren” kann man sich aus oben genannten Gründen nicht. Beschweren ist einfach nur destruktiv, sorgt für kein gutes Klima. Besser wäre es also, konstruktive Vorschläge zu machen, mich einzubringen. Leider fehlt mir dazu das nötige Wissen. Von der Entwicklung von Prototypen angefangen bis hin zu den einzelnen Produktionsabläufen in der Stifteherstellung.

9. Beschweren ist, wie der Name schon andeutet, schwierig. Schwierigkeiten machen bedeutet auch, aufrührerisch zu sein. Meine missbilligenden Äußerungen über einen scheinbar nur mich belastenden Umstand, könnten als Angriff missverstanden werden, zudem sind sie Indiz für meine Unfähigkeit, mit den heutigen Gegebenheiten sorglos und mit einer wie selbstverständlich wirkenden Souveränität umzugehen. Vom Bedenkenträger ist es nicht weit zum Verdächtigen, zum Revolutionär.

Ich werde mich wohl nicht beschweren. Zu dieser Einsicht muss ich nach Prüfung aller möglicher negativer Folgen kommen.

Nein, man muss eine Form von Kritik finden, die das Subjekt, das Ich, das schreibt und das sich beschweren will, auslöscht. Das schreibende Ich, darf nicht in einer Form existieren, in der es sich selbst angreifbar und damit belastbar macht. Denn allein der Gegenstand der Kritik hat die Zur-Last-Legung verdient. Sich beschweren, von sich schreiben, von sich sprechen, ohne sich selbst mit etwas zu beschweren, sich verdächtig zu machen: Ein Traum.

Ich werfe den Stift in den Mülleimer.

Die Antwort des Entwicklungsleiters von Stabilo steht im Kommentar zu diesem Artikel.

One Response to “Beschwerde”

  1. Marc

    Hier die verständnisvolle Antwort von Herrn Kämpf, Entwicklungsleitung Schreibgeräe bei der Stabilo GmbH (ich habe mich zuvor versichert, dass ich die Antwort hier veröffentlichen darf):

    Sehr geehrter Herr Jäger,

    Sie haben mit einem unserer Produkte eine sehr unerfreuliche Erfahrung machen müssen, und ich möchte mich daher bei Ihnen so gut es geht entschuldigen. Mir ist bewusst, dass ein paar Zeilen den Verlust Ihrer Aufzeichnungen nicht ungeschehen machen können, aber vielleicht kann ich Ihnen helfen, solche Erfahrungen in Zukunft zu vermeiden.

    Was ist passiert? Die Tinte des point 88/46 besteht neben Wasser und Feuchthaltemitteln aus mehreren Farbstoffen, die in Summe ein besonders tiefes Schwarz ergeben sollen. Leider ist die Lößlichkeit dieser Farbstoffe in Wasser und die Größe ihrer Moleküle nicht gleich, so dass sie mehr oder weniger zwischen die Fasern des Papiers kriechen können. Wie weit sie dabei kommen, hängt neben den offensichtlichen Faktoren Zeit und Temperatur sehr von der Beschaffenheit des Papiers ab. Je nachdem, wie gut die Fasern verleimt sind und wie fest das Papier gewalzt wurde, gibt es praktisch kein Kriechen oder ein Auffächern wie auf einem Löschblatt. Ich bitte Sie um Verständnis, wenn ich jetzt bekenne, dass wir beileibe nicht alle Papiersorten testen können, und die Kombination aus dem roten Farbstoff und dem Papier Ihres schwarzen Buchs haben wir nicht vorhergesehen.

    Mittlerweile haben wir die Rezeptur der Tinte geändert und den roten Farbstoff ersetzt. Er war uns selbst bereits unangenehm aufgefallen, aber leider nicht rechtzeitig, um Ihnen Ihre Erfahrung ersparen zu können. Aber jede Beschwerde ist für mich eine Anregung, um unsere Produkte zu verbessern. Daher versichere ich Ihnen, dass ich für jede Beschwerde dankbar bin, auch wenn Ihre mir nur die Richtigkeit einer bereits gefällten Entscheidung bestätigt hat. Ein Auslöser für Schwermut sollte sie für keinen von uns sein!

    Was können Sie tun, damit Ihre Notizen der Zeit besser trotzen? Allgemein gilt, dass die Gefahr des Kriechens um so größer ist, je dünnflüssiger die Tinte des Stiftes ist. Daher wird mit einem Kugelschreiber oder einem Gelstift Geschriebenes weniger Kriechneigung zeigen. Daneben gibt es aber noch eine andere Methode, der Tinte Farbe zu verleihen, als die des point 88. Während dieser wasserlößliche Farbstoffe verwendet, gibt es pigmentierte Tinten, die ohne Farbstoffe auskommen. Hier werden winzige Festkörper verwendet, die im Vergleich zu einem Farbstoffmolekül riesig sind und gar nicht erst in das Papier einziehen können. Die älteste Form des Schreibens mit Pigmenten hat sich im Bleistift erhalten; hier ist es Graphit, das sich beim Schreiben auf das Papier legt (und daher auch wieder wegradiert werden kann). Da die Pigmentteilchen schwerer sind als Wasser, ist ihre Verwendung in einer Tinte problematisch: Sie haben die Neigung, sich am Boden des Tintenbehälters abzusetzen. Dies kann verhindert werden, indem die Tinte eingedickt wird. Dies macht sich ein Gelschreiber zunutze; hier gibt es Varianten, die mit kleinen Metallflittern sogar einen Glitzereffekt erzeugen können. Daher ist meine Empfehlung, dass Sie einen Gelschreiber mit pigmentierter Tinte verwenden (Aufpassen: Es gibt sie auch mit Farbstofftinten – das wäre keine echte Verbesserung!).

    Ich hoffe nun, dass Sie aus Ihrer Beschwerde auch positive Aspekte gewinnen konnten!

    Mit freundlichen Grüßen,

    Peter Kämpf, Leiter F&E

    STABILO International GmbH

    originally posted: 25.07.2006 01:11

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