6. Disziplinargesellschaft und Körpertechnolgie:

Nach Foucaults Ansicht kommt es zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert, dem "klas-
sischen Zeitalter" (ÜuS 174), zu einer Transformation der Machtformen. Die souveräne
Straf-, Verbots- und Gesetzesmacht wird von der auf das Leben gerichteten "Disziplinar-
macht" (ÜuS 241, ÜuS 243, DdM 91, MdM 123) abgelöst. Jene "alltägliche Technologie
der Macht" ist eine "Macht über die Körper" (MdM 49). Es ist eine Macht, die sich umfas-
send "auf das Leben und dessen Ablauf richtet." Das Gefängnis ist das moderne Ideal
einer "Disziplinargesellschaft" (MdM 122, ÜuS 279), die ein ganzes Arsenal an Techniken
"der Überwachung, Kontrolle, der Identifizierung der Individuen, der Parzellierung ihrer
Gesten, ihrer Tätigkeit, ihrer Leistung" (MdM 49) erfindet.

 

Des weiteren möchte Foucault aufzeigen, daß es gewinnbringender und wirksamer ist
zu überwachen als zu strafen (vgl. MdM 32). Die Bestrafung erscheint bei ihm als eine
"komplexe gesellschaftliche Funktion" (ÜuS 34), welche positive und nützliche Effekte
schöpft, statt "in erster Linie an repressiven Wirkungen [...] ausgerichtet [zu] sein" (ÜuS
34).

 

Der französische Genealoge interessiert sich weniger für die Haftanstalten als für das
Verfahren der Disziplinierung selbst, denn Disziplin ist eine Machtechnik und keine
Institution (wie z. B. das Gefängnis). Sie entstammt gleichwohl aus verschiedenen Insti-
tutionen, in denen die Körperdisziplinierung teilweise schon vormals funktionierte: in
Kasernen, Klöstern, Fabriken, Festungen (vgl. ÜuS 182), Spitälern (vgl. ÜuS 185), Jesu-
itenkollegs (vgl. ÜuS 187) und Schulen. Als neuer Machttyp besetzt die Disziplin andere
Machtformen durch ihre Modifikation, Erweiterung, Verknüpfung und Verfeinerung, um
bis in die "feinsten und entlegensten Elemente" (ÜuS 271) wirksam zu sein. Die lücken-
lose Besetzung des Körpers ist der Vorsatz physisch-materieller Machtausübung (vgl.
MdM 108). Diese Kolonisierung bringt ein Wissen über den Körper hervor, das nur durch
militärische und schulische Disziplinen ermöglicht werden kann (vgl. MdM 109). Der
Körper wird zum "Gegenstand höchst komplexer Manipulation und Konditionierung"
(DdM 43), um ihn dadurch zu produktiven Leistungen anzuhalten.

In der Disziplinargesellschaft wird der Körper analysiert, in seine Bestandteile zerglie-
dert, manipuliert und "gelehrig" gemacht (vgl. ÜuS 174f). Die Disziplinartechnologie
wirkt auf einen Körper hin, "der unterworfen werden kann, der ausgenutzt werden kann,
der umgeformt und vervollkommnet werden kann" (ÜuS 175). Durch Übung und Training
wird Zwang auf den Körper ausgeübt. Der Drill soll jeden einzelnen Teil des Körpers
umschließen, damit er kontrolliert und ökonomisch effizient gemacht werden kann. Die
"Mechanik der Macht" (ÜuS 176) ist eine "politische Anatomie" (ebd.), die vom "Körper
als zu manipulierendes Objekt ausgeht." Die Disziplin unterscheidet sich von der Sklave-
rei, welche den Körper als Besitz betrachtet, dadurch, "daß sie auf ein so kostspieliges und
gewaltsames Verhältnis verzichtet und dabei mindestens ebenso beachtliche Nützlich-
keitseffekte erzielt" (ÜuS 176). Die "peinliche Kontrolle" der Tätigkeiten des Leibs und
die "dauerhafte Unterwerfung" (ÜuS 175) der Kräfte des Körpers sind die Methoden der
Disziplin. Mit der Disziplinargesellschaft formiert sich "eine Politik der Zwänge, die am
Körper arbeitet."

 

Der Körper verliert seine Sinn- und Zeichenhaftigkeit, dagegen rücken nun Taktiken und
Techniken zur Kontrolle und Manipulation des menschlichen Körpers und seiner Ver-
haltensweisen in den Vordergrund. Die Disziplinarmacht bildet sich in den Kollegs, den
Elementarschulen, den Spitälern und in der Armee. Von dort breitet sie sich bis zu den
Werkstätten, den Gymnasien und technischen Schulen aus. Es entsteht ein Netz von
unscheinbaren und minutiösen Techniken: die "Mikrophysik der Macht" (ÜuS 178, vgl.
ÜuS 191, ÜuS 207, ÜuS 40, MdM 33), die den Körper besetzt. Körperübung, Dressur,
optimale Zeiteinteilung und Standardisierung der Bewegungen des Menschen sind Wir-
kungsweisen der Macht, deren Mechanismus "den Körper um so gefügiger macht, je
nützlicher er ist, und umgekehrt" (ÜuS 176). Die Machttechniken unterdrücken nicht das
menschliche Körperverhalten, sie bringen ein neues produktiv hervor.

 

Foucault nennt vier Dressurprozeduren, die das Verhalten des Körper abrichten und
standardisieren: die räumliche Parzellierung, die zeitliche Durchrationalisierung der
vollständigen Körpertätigkeit, die zeitliche Organisation des Dressurverfahrens selbst und
die Eingliederung des Körpers in einen übergeordneten Funktionszusammenhang. So
schafft die "Kunst der Verteilung" (ÜuS 181) der Individuen im Raum eine Ordnung nach
Funktion und Rang (z. B. in Klöstern, Manufakturen, Kasernen und Schulen). Jeder
Mensch wird "zellenförmig" (ÜuS 184) einem Platz zugeordnet, um ihn zu klassifizieren
und fixieren. Das Unübersichtliche und Vielfältige wird organisiert, geordnet, gemeistert
(vgl. ÜuS 190). Bei der zeitlichen "Kontrolle der Tätigkeit" (ÜuS 192) wird der Ablauf
von Handlungen des Körpers in Phasen eingeteilt (vgl. ÜuS 195). Durch militärische
Disziplin soll eine "positive Ökonomie" (ÜuS 198) der "Ausschöpfung" gegen den Müßig-
gang organisiert werden. Sie zerlegt und kontrolliert die Zeit der Individuen. Das
dritte Verfahren ("Die Organisation von Entwicklungen", ÜuS 201) meint eine "Technik
der Erfassung der Zeit von Einzelexistenzen" (ÜuS 202). Dabei wird die lineare "Diszipli-
narzeit" auf ein fixiertes Ziel ausgerichtet, das einen "evolutiven" Fortschritt des Individu-
ums durch Übung hervorbringen soll (vgl. ÜuS 207). Eine Dynamik der steten Entwick-
lungen des Körpers verdrängt die Macht der Ereignisse. Die letzte Dressurprozedur ("Die
Zusammensetzung der Kräfte", ÜuS 209) meint die "Kunst der Zusammensetzung der
Kräfte zur Herstellung eines leistungsfähigen Apparates" (ÜuS 212). Durch Einschär-
fungen (in Schule, Militär usw.) soll ein bestimmtes Körperverhalten der Individuen
ausgelöst werden, ohne daß der Befehl noch begründet werden muß (vgl. ÜuS 214). Die
Handlungen des einzelnen Individuums werden automatisiert und im Hinblick auf die Tä-
tigkeiten anderer abgestimmt. Damit werden taktische Netzwerke zur effizienten Ver-
knüpfung von Körpern und Aktivitäten geschaffen. Das Zusammenspiel der zellenförmi-
gen, organischen, evolutiven und kombinatorischen Dressurübungen nennt Foucault
schließlich auch Taktik (vgl. ÜuS 216).

Die "hierarchische Überwachung" (ÜuS 221) setzt mit dem kontrollierenden und zwin-
genden Blick die Disziplin durch. Da sich die Komplexität des Produktionsapparates
immer mehr steigert und Unfähigkeit, Krankheit, Faulheit, Veruntreuung usw. (vgl.
ÜuS 226) den Unternehmen zu teuer werden, muß sich die Überwachung zunehmend
spezialisieren. Sie übernimmt jetzt eine durchschlagende ökonomische Funktion. In den
Fabriken wird die Macht vielfältig, autonom und anonym; sie kontrolliert vollkommen
"diskret" mittels eines Netzes von überwachten Überwachern (vgl. ÜuS 228f). Die Orga-
nisation der gegenseitigen Beobachtung läßt das System funktionieren, sie macht die
Macht effizient.

 

Die "normierende Sanktion" (vgl. ÜuS 229, ÜuS 238) ist eine "Mikro-Justiz" (ÜuS 230),
die fast alle Lebensbereiche erfaßt; keine Banalität des Alltags entgeht ihr. Zeit (z. B. Ver-
spätung, Pausen, Fehlzeit), Tätigkeit (nachlassende Aufmerksamkeit, Müßiggang), Kör-
per ("falsche" Gestik und Haltung des Körpers, Ungepflegtheit) und Sexualität (mangelnde
Scham und unanständiges Verhalten) werden kontrolliert; Fehlverhalten wird durch Züch-
tigungen und kleine Demütigungen abgestraft (vgl. ÜuS 230). Abweichendes Tun gilt als
"Fehler", denn "[s]trafbar ist alles, was nicht konform ist" (ÜuS 231).

 

Auf Abweichler muß korrigierend eingewirkt werden. Die Disziplinarmacht arbeitet
mit Einschärfungen, Strafen und Verpflichtungen; sie ist richtendes Abrichten (vgl. ÜuS
232). Handlungen werden in ein binäres System von guten und bösen Taten eingeordnet
und qualifiziert. Individuen werden in einer ständigen "Mikro-Ökonomie" differenziert
und bewertet. Jedes Subjekt bekommt seinen Platz in einem hierarchisierten Apparat, der
die gelungene Disziplinierung mit Plus- und Minuspunkten mißt (vgl. ÜuS 233f). Die
Sanktionen und Belohnungen dieser Justiz wirken ordnend auf die Handlungen der
Individuen und sie selbst. Akribische Berichte sollen die Individuen durchschauen und
ihre "Wahrheit" ans Licht bringen. Nachdem die Subjekte so eingeteilt sind, zielt man
darauf ab, daß "sie sich alle gleichen" (ÜuS 235). "Wenn der Apparat aber einmal in Be-
wegung gekommen ist, wird immer schärfer differenziert und korrigiert, die Individuen
werden gesondert und nach Rängen aufgeteilt."

 

Die Machttechnik, welche die normierende Sanktion und Überwachung miteinander
verbindet, nennt Foucault Prüfung. Sie verschränkt Macht und Wissen, Erzeugung und
Kontrolle des Wissens, indem sie den Geprüften überwacht und an die Wissensstandards
anpaßt. Mit diesem Verfahren der Macht wird das Individuum durch "subjektivierende
Unterwerfung" und "objektivierende Vergegenständlichung" bearbeitet (vgl. ÜuS 238).
Die Disziplinarmacht besorgt die Sichtbarkeit ihrer Objekte, sie selbst strebt dagegen nach
Unsichtbarkeit (vgl. ÜuS 241). Als "Zeremonie der Objektivierung" (vgl. ÜuS 242) macht
die Disziplinargewalt die "Subjekte", die sie selbst erzeugt, sichtbar.

 

Die Schriftmacht überwacht die unterworfenen Subjekte und legt Akten über die Diszi-
plinarindivualitäten an. Sie sind seit Ende des 18. Jahrhunderts Gegenstand des wissen-
schaftlichen Diskurses, der das Individuum zu einem "Fall" werden läßt, den man korri-
gieren, dressieren, klassifizieren und ausschließen kann (vgl. ÜuS 246). Durch die Aus-
wertung von angehäuften Dokumenten sollen die Individuen vergleichbar werden; es ent-
steht ein System, das die Abstände zwischen den Subjekten einschätzt und sie innerhalb
der "Bevölkerung" verteilt (vgl. ÜuS 245). Das Individuum und seine Erkenntnis sind
nur Effekte einer Wirklichkeit, die durch Macht und Wissen produziert wird (vgl. ÜuS
250). Die Humanwissenschaften entstehen "in jenen ruhmlosen Archiven [...], in denen
das moderne System der Zwänge gegen die Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen
erarbeitet worden ist" (ÜuS 246). Individualität ist folglich nur eine "Spielart der Macht"
(ÜuS 248), welche die Unterworfenen z. B. durch Psychologien, -therapien, -analysen
usw. ausfragt, um sie zu klassifizieren und zu normieren (vgl. ÜuS 249). Die Techno-
logien, die man zunächst nur in besonderen Machtinstitutionen (Spitälern, Kasernen,
Klöstern) finden konnte, breiten sich getarnt als spezialisierte Sozial-"Wissenschaften" in
der Disziplinargesellschaft aus (vgl. ÜuS 249). Der souveräne Zwang der Wahrheit wird
von dem Zwang der "disziplinarisierten Wissenschaften" abgelöst (VdG 215). Die Prü-
fung restauriert und fixiert die Normen, auf deren Grundlage sich diese Wissenschaften
konstituieren.