12. Essay: Neue Formen des Widerstandes:

 

In den Kritiken von Foucaults Werk wird immer wieder die eine Frage gestellt: Wie
läßt sich ein Widerstand gegen die Normalisierungsmacht und die Disziplinarmacht be-
gründen, wenn es weder ein universales, transzendentales, transhistorisches Subjekt noch
eine normative Begründung für widerständige Aktionen gibt? Wenn man aber Foucault
folgt und sich diesen beiden Punkten verweigert, dann kann die Antwort nur lauten, daß
sich die Körper auf nicht-diskursive Weise widerständig zeigen. Es verwundert, daß den
Kritikern kaum aufgefallen ist, wie sehr Foucault das Körperliche und das Non-verbale
in seinen Analysen betont.

 

Die Disziplinarmacht produziert Körper, die sie danach wieder durch Normalisierung
intergrieren will: Die Magersüchtige, deren Körper von der Schönheitsnorm gezeichnet
ist; der Angstneurotiker, dem die Stimme versagt, dem das Herz rast und dessen Leib
zittert; der Soldat, in den sich die Bio-Macht der "Bevölkerung" mit Wunden eingeschrie-
ben hat; die "hysterische Frau", deren psychosomatische Erregung sie aufschreien oder in
Ohnmacht fallen läßt; der Bergarbeiter mit der Staublunge; der HIV-infizierte Drogen-
abhängige; sie alle brauchen keine normative Theorie, die eine widerständige Reaktion
begründet. Ihr Körper zeigt sich widerständig gegenüber den Zwängen und Einpflanzun-
gen der Macht, die ihn "fabriziert" hat (vgl. MdM 91).

 

Aber in dem gesellschaftlichen Körper (Hervorhebung von mir, M. C. J.), in den
Klassen, in den Gruppen, den Individuen gibt es immer etwas, das in gewisser Wei-
se den Machtbeziehungen entgeht; etwas, das durchaus nicht ein mehr oder we-
niger fügsamer Rohstoff ist, sondern eine zentrifugale Bewegung, eine umgepolte
Energie, ein Entwischen (DdM 204).

Der Sprache dieser Körper hört niemand wirklich zu, man sieht diese Körper nicht ("Die
Gesellschaft tut alles, um die Blicke aller von allen Ereignissen abzulenken, welche die
wahren Machtverhältnisse verraten. [...] Hier wie dort will man das Übel nur an der Wur-
zel packen, d. h. dort, wo man es nicht sieht oder spürt - weit weg vom Ereignis [...]";
MdM 29). Sie werden mediziniert, psychiatrisiert und therapiert, weil sie für die Gesell-
schaft nicht nutzbringend sind. Die konkrete Erfahrung von gesellschaftlichem Zwang am
Leib ist weniger eine "Krankheit", sondern ein Widerstand auf der physischen Mikro-
Ebene, der keine normative Begründung braucht. Die Realität des Körpers ist eine Moral
vor jeder Moral.

 

Der Schizophrene, der die Welt mit anderen Augen betrachtet, soll - sofern das über-
haupt möglich ist - solange therapiert werden, bis er sich unterwirft, in die Falle geht,
und eine andere, "normale" Realitätskonzeption als seine eigene akzeptiert. Aber selbst
dann läßt man ihn nicht in Ruhe, er trägt immer das Stigma mit sich: "Du bist verrückt
gewesen. Du wirst also bis ans Ende deiner Tage derjenige gewesen sein, der einmal
verrückt gewesen ist" (MdM 132f). In der Hierarchie des Patientengesprächs ist er immer
dem Experten konstitutiv unterlegen. Das Vielfältige im Denken wird einer Herrschaft des
Sinns, der Bedeutung, des Analogen und des Bipolaren unterworfen. Der Patient krankt
oft nicht an seiner von der Norm abweichenden Wirklichkeitswahrnehmung, sondern an
der gesellschaftlichen Sanktionierung und Disqualifikation. Das Ende des freien Dialogs
zwischen Vernunft und Unvernunft ist der Zeitpunkt, in dem "die Vernunft für den Men-
schen aufgehört hat, eine Ethik zu sein, um statt dessen eine Natur zur werden" (PuG 131).

 

Man hat verlernt, dem Wahnsinnigen noch zuzuhören; "das Wort des Wahnsinnigen
[wurde] entweder nicht vernommen oder, wenn es vernommen wurde, als Wahrheit ge-
hört" (ODis 12). Entweder man sah darin eine verborgene Wahrheit oder nur unsinniges
Gestammel. Seit dem 18. Jahrhundert bricht der Dialog ab, die Psychiatrie spricht nur
noch in einem Monolog über den Wahnsinn (WuG 8). Eine andere Weltsicht paßte nicht
in eine aufklärerische Denkweise, die Heterogenes durch den Konsens gleichmacht. Das
Differente wird der allgemeinen Norm unterworfen. Den Wahnsinnigen soll man - Fou-
cault zufolge - nicht die Wahrheit ablauschen, aber das Wissen über die konkrete Macht-
erfahrung am Körper der Kranken, der Psychiatrisierten, der kritischen Ärzte usw. (vgl.
DdM 60) muß zur Sprache kommen. Foucault kann für diese Menschen nicht sprechen,
doch er setzt sich dafür ein, daß man, ohne Hierarchien (Arzt/ Patient, Experte/ Unwissen-
der, Gesunder/ Kranker) aufzubauen, diesen Erfahrungen Gehör schenken muß.

Oftmals wurden diese differenten Realitätsauffassungen ästhetisiert. Es dauerte aber
nicht lange bis Schriftsteller wie Franz Kafka und Paul Celan die Identität des "Angstneu-
rotikers" und des "Schizophrenen" zugewiesen bekamen. Die "Schizophrenie" ist für
Foucault nichts, was etwas Realem in der Welt entspricht, doch ihre Problematisierung
und soziale Regulierung "ist eine 'Antwort' auf eine konkrete Situation, die durchaus real
ist" (DuW 179). Das Leiden der beiden Künstler an der Realität der Disziplinargesell-
schaft (Kafka) und an den katastrophalen Auswirkungen der Bio-Macht (Celans Eltern
starben in KZs) zwang sie dazu, sich Therapien zu unterziehen. Letztlich flüchtete sich
Kafka in eine Tuberkulose-Erkrankung, Celan beging Selbstmord. Die Ästhetisierung
solcher Leiderfahrungen und die Fiktionalisierung individueller Geschichte kann eine
Möglichkeit sein, der normierenden und totalisierenden Macht zu entwischen. Unter der
"Ästhetik der Existenz" kann man also auch eine künstlerische Bearbeitung konkret er-
fahrener Realität verstehen (Dr. Rose in der Rede von Toul: "An diesem Tag, an diesem
Ort war ich da und habe gesehen [...]", MdM 28). Foucaults Meinung nach zeigt Baude-
laire diese kritische Haltung gegenüber seiner gegenwärtigen Realität: "Baudelairesche
Modernität ist eine Übung, in der die höchste Aufmerksamkeit dem Wirklichem gegen-
über mit der Praxis einer Freiheit konfrontiert wird, die dieses Wirkliche gleichzeitig res-
pektiert und verletzt" (WiA 44). Die "Ästhetik seiner selber" ist eine Übung, bei der man
sich selbst nicht richtend aburteilt, sondern eine distanzierte Perspektive einnimmt, inne-
hält und sich prüft (vgl. DuW 175).

Foucault glaubt allerdings nicht, daß es heute noch solche Schriftsteller gibt, denn die
Dichter schreiben nicht mehr von konkreten Erfahrungen, sondern verarbeiten lediglich
die neuesten Theorien (vgl. MdM 45f). Der Schriftsteller als moralische Instanz ver-
schwindet. Foucault hofft nun, daß der "spezifische Intellektuelle" (MdM 45) seinen Platz
einnimmt. Heute haben Biologen (Gentechnik) und Physiker (Atombombe, Kernenergie)
die Macht über Leben und Tod ganzer "Bevölkerungen". Kritische Intellektuelle müssen
heute als "Experten" die Instrumente für den Widerstand gegen eine Normalisierung der
angeblich "wertfreien" Wissenschaft liefern. Foucault fordert die Politisierung der Richter,
Psychiater, Ärzte, Sozialarbeiter, Soziologen usw. (vgl. MdM 49), um der Macht entge-
genzuwirken. Tatsächlich hat es besonders seit den 70er Jahren immer wieder einzelne
Intellektuelle und Gruppen von Wissenschaftlern gegeben, die sich gegen Normalisierun-
gen gewehrt haben (z. B. Ärzte gegen Atom). Auch in der breiten öffentlichen ethischen
Debatte kommt den Intellektuellen eine wichtige Rolle bei der Thematisierung von Ster-
bebegleitung (z. B. der Artikel von Erika Feyerabend in der Frankfurter Rundschau vom
7. 12. 2000: "Die Normalisierung von Tötungshandlungen"), Erinnerungskulturen/-politi-
ken (Holocaust-Mahnmal, Gedenkstätten usw.), Gentechnik und anderen Politikfeldern zu.
Foucault fordert, daß die Intellektuellen an spezifischen, lokalen Orten kämpfen, in dem
sie sich beispielsweise als "Normale", die vorgeben "schizophren" zu sein, in die Psychia-
trie begeben, um dort nach einer Weile den "Irrtum" aufzuklären (vgl. MdM 131-134). Sie
sollen den Marginalisierten das Expertenwissen zur Verfügung stellen, damit diese gegen
die omnipräsente Macht an bestimmten Plätzen kämpfen können. Bisher haben die "infa-
men Menschen" (Wahnsinnige, Kranke, Spinner, Delinquenten, Perverse, gewohnheits-
mäßige Arbeitslose, Prostituierte, Drogenabhängige, vgl. u. a. MdM 66) aber kaum auf das
Wissen zurückgegriffen. Die öffentliche Diskursivierung der gescheiterten Existenzen ist
nicht weit fortgeschritten.

 

Christoph Schlingensief hat versucht, durch seine Popularität der Rede von Wahnsinni-
gen und Ausgeschlossenen ein Forum zu bieten. Der Versuch mußte scheitern ("Scheitern
als Ziel"), weil man diesen Diskurs für nicht "ernsthaft" oder "seriös" hielt, obwohl gerade
die Marginalisierten - und nicht die Experten - am besten von ihrem Unglück berichten
können. Wahrscheinlich scheiterte der Versuch auch deshalb, weil sich Schlingensief
dabei zu sehr in den Vordergrund drängte oder er dazu gezwungen wurde. Ansätze wie die
Diskursivierung von spezifischen Realitäten, die Ästhetisierung der Politik, spontane
Aktionen, Selbstermächtigung des Individuums ("wähle dich selbst!"), das Aufzeigen von
verlorenen Kämpfen und die Abwehr von zugewiesenen Identitäten sind sicherlich in
Foucaults Sinne. Zu einer andauernden öffentlichen Diskussion haben Schlingensiefs
Aktivitäten allerdings nicht geführt. Sie zeigen aber, daß Widerstand über eine bloß "ver-
neinende Stadtguerillia" hinausgehen kann. Marxisten und Psychiater schweigen meist
ebenfalls zu Foucaults genealogischen Machtanalysen, oder beachten diese erst gar
nicht (vgl. DdM 66f).

 

Foucault fordert "ein neues Recht [...], das nicht nur von den Disziplinen, sondern zu-
gleich auch vom Prinzip der Souveränität befreit ist" (DdM 95). Dieses Recht braucht
keine theoretische Legitimation und basiert zudem nicht auf dem sogenannten "gesunde[n]
Menschenverstand" (DdM 60). Ein Recht, das sich nicht von der Normalisierungsmacht
vereinnahmen läßt, muß respektieren, daß der Andere anders ist und daß er sich immer
wieder ändern kann. Jacques Derrida formuliert - in Bezug auf Paul de Man - ein
solches Recht, dessen erste Regel folgendermaßen lauten könnte:

Erste Regel: die Achtung für den anderen, das heißt die seines Rechtes auf Diffe-
renz in seinem Verhältnis zu den anderen, aber auch in seinem Verhältnis zu sich.
Was heißen hier diese großen Worte? [...] Achtung des Rechtes auf Irrtum, ja Ver-
irrung, [...] nicht nur Achtung des Rechtes auf eine Geschichte, auf einer Verwand-
lung seiner selbst und seines Denkens, das sich nie zu Homogenem totalisieren
oder reduzieren läßt [...]. (Jacques Derrida)

 

Die Achtung des Rechtes auf Differenz, die Widerständigkeit des unterworfenen Körpers
und der Lüste sowie eine kritische Haltung gegenüber der Wirklichkeit sind gangbare Al-
ternativen zum Souveränitäts- und Disziplinarrecht.