DAS ENDE DER POLITIK?

über Macht und Mediendemokratie - Ein Essay:

Inhalt:

1. Das Ende der Politik?

2. Das Ende des Politikers - Das Wesen der Politik als Phantom

3. Das Ende der Partei

4. Das Gespenst der öffentlichen Meinung

5. Die demokratische Meinungsregierung

6. Von der Demokratie zur Macht der Mediendemokratie?

7. Das Recht auf Antwort gegenüber der Medienmacht

8. Literatur

1. DAS ENDE DER POLITIK?

In den letzten Jahren treffen zwei scheinbar gegensätzliche Auffassungen immer wieder aufeinander: Zum einen heißt es, daß „alles politisch” sei, zum anderen fällt ein rückgängiges Interesse an der Politik auf.

Neben Hegels Verkündung des „Endes der Kunst” (vgl. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 127f u. S. 231), NietzschesTod Gottes” (vgl. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 351), BlanchotsEnde der Philosophie” („La fin de la philosophie”), FukuyamasEnde der Geschichte” (damit spielt er ebenfalls auf Hegel an) und „Ende des Marxismus” (Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? Vgl. Anderson: Zum Ende der Geschichte. Vgl. Meyer: Ende der Geschichte? Vgl. Diehl: Wider die Langeweile am ‚Ende der Geschichte‘), RifkinsEnde der Arbeit” (Rifkin: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft), BaumansEnde der Moral, wie wir sie kennen” (Bauman: Wir sind wie Landstreicher. Die Moral im Zeitalter der Beliebigkeit, S.299), dem „Ende des Menschen” (OdD 460) bzw. „Verschwinden des Menschen” (vgl. OdD 461f), dem „Tod des Autors” (SzL 12; vgl. Roland Barthes´ „La mort de l´auteur”. Vgl. Schmiedermair: Die Rache des toten Autors) und dem „Ende der Subjekt-Philosophie” (vgl. ODis 38) bei Foucault, spricht man in den letzten zwanzig Jahren auch vermehrt vom Ende oder Rückzug der klassischen Politik („retrait du politique”).

Dieser kurze Versuch will anhand einiger Positionen der poststrukturalistischen Philosophen Jacques Derrida und Michel Foucault eigene Gedanken zu diesen Veränderungen im herrschenden Diskurs formulieren. Nachdem die Frage danach, wer Macht besitzt und wie sie verteilt wird, bereits dargestellt wurde und mögliche Antworten gegeben wurden (siehe Studienarbeit), soll hier notdürftig gezeigt werden, welche Konsequenzen sich aus diesem Verschwinden der traditionellen Auffassung über den Bereich des Politischen ergeben. Ist das Modell der abendländischen Demokratien noch zu retten? Welche Rolle spielen dabei die Medien? Was soll diese Frage überhaupt, wenn man doch in der jüngsten Geschichte den Niedergang des Kommunismus, das scheinbare Verschwinden des marxistischen Gespensts miterleben konnte?

Warum erscheinen die westlichen parlamentarischen Demokratien nicht mehr als handlungsmächtig und innovativ; weshalb erwartet man von ihnen keine grundlegenden Veränderungen mehr; wieso wirken sie so starr und ereignislos?

Kimmerle formuliert folgende Thesen zu Derridas Skepsis:

„[Derrida] erkennt, daß die Philosophie gegenüber der spezifischen sozialen und politischen Rolle der Universität blind ist. Er sieht keine Möglichkeit, die Philosophie im politischen Spiel einzusetzen. [...] Das Politische vermag ihn deshalb nicht zu fesseln. Das politische Geschehen und seine Vermittlung durch die Medien verkörpert für ihn eine verbrauchte und steril gewordene Programmatik. Der lange Zeit gültige und auch vorrevolutionäre Anspruch, daß alles Politik ist, verkommt zu einem Gemeinplatz. Die Politik wird inhaltslos und langweilig, weil sie denselben Code unablässig modifiziert und reproduziert. Zugleich befestigt sich darin die umfassende Herrschaft der Politik über alle Lebensbereiche. Alles wird auf wenige, zur Selbstverständlichkeit erstarrte Formeln zurückgeführt.

Daß Politik und Philosophie zusammengehören, läßt sich indessen von den Zeiten der antiken griechischen Polis (Stadtstaat) her nachweisen. Um die Wahrheit allgemein zu machen, so daß sie für jeden in gleicher Weise zugänglich ist, bilden sich zugleich die Philosophie und die Polis. Was Wahrheit ist, bestimmt sich durch die Mehrheitsverhältnisse der Polis-Demokratie. Das heißt aber, die Minderheiten zählen nicht mit. Sie haben ihre eigenen Motive zu verleugnen und sich der Mehrheit anzuschließen. Daß die Philosophie im Lauf der Geschichte der Metaphysik umfassende Systeme entwickelt, in denen alles Seiende von einem höchsten Seienden aus gedeutet wird, geht zusammen mit dem Totalitär-Werden der Politik in dem Sinne, daß sie alles durchdringt und alles von technisch-administrativen Formeln aus bestimmt. Die Mehrheiten sind manipuliert. Dieser Begriff einer totalitären Politik gilt auch für die westlichen Demokratien, in einem anderen Sinn für den Nationalsozialismus oder den Stalinismus. Dabei ist vorausgesetzt, daß das demokratische System zu einem leeren Funktionalismus verkommen ist, zum formalen Einhalten äußerer Spielregeln. Nicht nur die Motive der Minderheiten, sondern auch die der Mehrheiten zählen nicht mehr. Von diesem Standpunkt aus sind die heutigen Demokratien >weiche<, >subtile< Formen des Totalitarismus, in denen die demokratische >Leere< nicht wieder mit Substanz erfüllt wird, sondern, vor allem durch die Medien, durch einen technisch zustande gebrachten Konsensus aufgefüllt wird. Dabei soll nicht ausgeschlossen werden, daß sich auch das Sowjetregime auf eine weiche oder subtile Form des Totalitarismus zu entwickelt.‘ [(Berns: De terugtrekking. Over politiek en ethiek bij Derrida. In: Jacques Derrida. Hg. v. S. Ijsseling. S. 167)].”

Sieben Thesen dazu:

Fortwährend werden die gleichen Codes, Redeweisen über das „Politische” reproduziert:

Verschiedene Schuldzuweisungen (die Opposition, die „niedergehende Moral”, die „kapitalistischen Ausbeuter”, die „Männer da oben”, „die Ausländer” haben schuld)

Eine Denk- und Redeweise, welche die politischen Handlungsmöglichkeiten in einem bestimmten, beschränkten Raum (das Parlament, „dort oben”, beim Kapital usw.) verortet

Ein Denken, welches wirkungsmächtiges politisches Sprechen ebenfalls an ausschließlich diesen Orten vermutet

Die Konsenssucht läßt keinen Raum für scheinbar unpopuläre Maßnahmen, welche sich für die spezifischen Interessen von Minderheiten einsetzen. Mehrheiten grenzen Minoritäten, die keine (humanistisch denkende) Lobby haben, immer mehr aus, um sie auch gleichzeitig wieder einzuschließen (die Problemfelder der Psychiatrie, der Kranken, Entmündigten, „armen Irren”, „Arbeitsscheuen”, „Asozialen”, Prostituierten, Internierten, usw.)

Die Rolle der Medien (Politiker werden scheinbar zu Marionetten der Medien; manche Konflikte werden durch die Medien initiiert, andere werden nicht thematisiert, weil sie als zu schwierig darstellbar, uninteressant für die breite Masse, langweilig usw. gelten. Selbst die redlichsten Journalisten und Medienmacher gehen selektiv vor) und das Problem der „öffentlichen Meinung” (welche Dinge sind zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Voraussetzungen diskursivierbar? Was gilt als wahr oder falsch, was als sagbar oder unsagbar?) Die Medien manipulieren die Mehrheiten; Umfragen zeigen nicht nur den status-quo, sondern wirken auch umgekehrt wieder auf die „Bevölkerung” ein

Das Individuum wird dazu gezwungen, sich in immer globaleren Zusammenhängen zu stellen und abzugleichen (z. B. das „Problem der Bevölkerung”, „die Deutschen sterben aus” usw.). Welche „Normalitäten” werden hier produziert?

Einer „politischen Willensbildung” geht ein umfangreicher Apparat von Abrichtungsinstanzen voraus (d. h. Schule, Familie, Psychologen, Krankenhäuser, Polizei, Verwaltung, Arbeitsplatz, Medien); sie sind dem Individuum koextensiv

Eine dichotomische Denkweise (nach der selektiven Auswahl von Themen, die überhaupt im politischen Raum thematisiert werden können, gibt es meist nur zwei Lösungsmöglichkeiten; man darf dann „dafür oder dagegen” sein, letztlich wird ein „Kompromiß” zwischen beiden geschlossen)

Wenn man sich für spezifische politische Themen engagiert, bekommt man dadurch gleichzeitig eine Identität zugeschrieben, die den eigenen (wildwuchernden) Diskurs festschreiben und weitgehend unbeweglich machen soll. Eine Abweichung von dieser „Identität” wird sanktioniert oder überhört (z. B. durch die, die ganz genau wissen, was „der wahre Marxismus”, „die wirklich feministisch denkende Frau”, „die eigentliche Linke”, „der Homosexuelle” u. ä. ist). Diese Identitäten werden durch einen vielfältigen (Wissens-) Apparat produziert, verwaltet, selektiert, vervielfältigt usw.

2. DAS ENDE DES POLITIKERS – Das Wesen der Politik als Phantom

Derrida schreibt in seiner - lange geforderten – Auseinandersetzung mit dem Marxismus:

„Was sich nicht mehr ermessen läßt, das ist dieser Sprung, der uns schon von diesen medialen Mächten entfernt, die in den zwanziger Jahren, vor der Erfindung des Fernsehens, den öffentlichen Raum zutiefst veränderten und damit die Autorität und die Repräsentativität der Gewählten auf gefährliche Weise schwächten und das Feld der parlamentarischen Diskussionen; Beratungen und Entscheidungen einengten. Man könnte sogar sagen, daß sie schon die auf freie Wahlen basierende Demokratie und die politische Repräsentation in Frage stellten, jedenfalls in der Form, wie wir sie bis heute kennen. Wenn man in allen abendländischen Demokratien dahin tendiert, den Berufspolitiker, das heißt den Parteimann als solchen, nicht mehr zu respektieren, dann liegt das nicht nur an dieser oder jener Unzulänglichkeit, an diesem Fehler oder jener Inkompetenz, an irgendeinem Skandal, der besser bekannt oder ausgeweitet wurde und der in Wahrheit vielleicht von einer Medienmacht produziert oder sogar angestiftet wurde. Es liegt vielmehr daran, daß der Politiker in zunehmenden Maß, ja einzig und allein auf die Rolle einer medialen Repräsentationsfigur reduziert wird, im selben Augenblick, in dem die Transformation des öffentlichen Raums durch eben jene Medien ihn das Wesentliche der Macht verlieren läßt, und nicht nur der Macht, sondern sogar der Kompetenz, die er ehedem in bezug auf die Strukturen der parlamentarischen Repräsentation, der Parteiapparate, die daran gebunden waren, usw. innehatte. Wie groß auch seine persönliche Kompetenz sein mag, der Berufspolitiker alten Schlags tendiert heute dahin, strukturell inkompetent zu werden. Ein und dieselbe Medienmacht klagt die Inkompetenz des traditionellen Politikers an, treibt sie hervor und weitet sie aus: Einerseits entzieht sie ihm die legitime Macht, die er aus dem politischen Raum (Partei, Parlament usw.) bezog, aber andererseits zwingt sie ihn, eine einfache Silhouette, wenn nicht sogar eine Marionette auf dem Theater der televisuellen Rhetorik zu werden; Man hielt ihn für einen Akteur der Politik; oft läuft er Gefahr, das ist allzu bekannt, nur noch ein Fernsehdarsteller zu sein. ([Zitat aus der dazugehörigen Fußnote:] „[...] Man müßte auch die Rolle analysieren, die die Geschwindigkeit und die Macht der Medien für die Macht eines solchen – individuellen und internationalen – Spekulanten spielen, der jeden Tag diese oder jene Währung schwächt oder stärkt. Seine Telefonanrufe und die kleinen Sätzchen, die er im Fernsehen äußert, lasten schwerer als alle Parlamente der Welt auf dem, was man die politische Entscheidung der Regierungen nennt.”)

Wolfgang Hoffmann-Riem beschreibt in seinem Artikel „Politiker in den Fesseln der Mediengesellschaft” die Zwänge, die auf den Politiker einwirken, aus der Sicht eines Betroffenen. Da viele Dinge, die noch eingehend diskutiert werden müßten, oftmals zu früh an die Öffentlichkeit dringen, werden Politiker auf die verlautbarten Positionen festgenagelt, ein Abrücken von vorläufigen Plänen ist dann kaum noch möglich. Eine abweichende Meinung aus Einsicht oder aus einer abrupten Änderung der Sachlage heraus wird nicht akzeptiert.

Zwischen den Medien und den Politikern gibt es den immer gleichen Konflikt: Die Politiker wollen nur gute Berichte, die Medien bevorzugen dagegen die schlechten Nachrichten. Entscheidungen werden daher oft ausgesessen aus Angst, die Medien könnten sich negativ über sie äußern.

Die Medien entscheiden, was neu, interessant, unterhaltend, berichtenswert ist. Komplexe Sachverhalte werden ausgespart; Themen, die scheinbar nicht „von allgemeinen Interesse” sind, werden weggelassen. Beispielsweise interessiert die existierende grausame Normalität des Strafvollzugs nicht, interessant ist dagegen ein spektakulärer Gefängnisausbruch.

Presse und Fernsehen wissen scheinbar zu jedem Thema einen Rat. Einen Politiker, der zugibt, für eine komplexe Thematik keine geeignete Lösung zu finden, die für die Medien als angemessen erscheint, darf es folglich nicht geben.

Viele Politiker klammern sich an die Medien und schaffen selbst Ereignisse, die sich gut verkaufen lassen: Jürgen Möllemann steht besonders früh auf, um schon in den Morgenmagazinen als erstes zitiert zu werden; durch spektakuläre Auftritte (z. B. seine Fallschirmsprünge) versucht er - zumeist erfolgreich -, Fernsehpräsenz zu erlangen. Guido Westerwelle ist allgegenwärtig in Talkshowrunden und schreckt auch nicht vor einer Selbstinszenierung mit einem abgeschmackten Big-Brother-Auftritt zurück. Personen von gesteigertem öffentlichen Interesse können sich sogar die Zusammensetzung einer Talkshowrunde selbst auswählen. Christoph Schlingensief, Jutta Ditfurth und Helmut Kohl wurden bislang nie in dieselbe Runde eingeladen. Warum nicht?

Die Rhetorik verschiedener Politiker orientiert sich zunehmend am Massengeschmack, der durch die Medien erzeugt beziehungsweise gelenkt wird. Vorurteile und Populismus verbinden sich daher zu einer gefährlichen Mischung.

Die einzelnen Journalisten selbst orientieren sich ebenfalls am Geschmack der Massen. Sie selbst lesen Zeitung, schauen Fernsehen, hören Radio, konsumieren Werbung usw. Ist ein sogenannter „Meinungstrend” entdeckt, hängt sich ein großer Anteil der Journalisten an dieses Thema. Für den Politiker erscheint es oftmals nutzlos, ein Wort gegen den „Trend” zu setzen. Möchte ein Politiker Aufmerksamkeit für ein Thema herstellen, das den Medien als nicht „trendgerecht” erscheint, wird dieser Versuch einer anderen Rede meistens ausgelassen. Die Macht der Medien wirkt auch zu einem großen Maß durch das, was ausgespart bleibt.

Auch durch die sogenannte „Empirie” der „Statistiken” wirkt die Macht der Medien: Die Auswahl von Meinungsumfragen ist selektiv, man zeigt die Statistik, die gerade genehm ist, eine andere wird weggelassen. Meinungsumfragen zeigen nicht den aktuellen Stand innerhalb einer „Bevölkerung”, sondern dienen in erster Linie dazu, individuelle Auffassungen zu beeinflussen, zu bestätigen und zu kanalisieren. Die Statistik soll zu bestimmten Thematisierungen führen; das Individuum kann dann „entscheiden”, ob es sich für oder gegen die „öffentliche Meinung” stellt. (Statistiken dienen als „Normalitätsmaschinen”: Jeder Bundesbürger kann sich z. B. mit den zahlreich im „Focus” abgedruckten Meinungsumfragen abgleichen und dann ganz einfach bestimmen, ob er noch „normal” ist.)

3. DAS ENDE DER PARTEI

„Nun scheint man aber heute überall in der Welt beobachten zu können, daß die Struktur der Partei nicht nur immer verdächtiger wird (und zwar nicht mehr immer und notwendigerweise aus >> reaktionären<< Gründen im Sinne der klassischen individualistischen Reaktion), sondern daß sie den neuen tele-techno-medialen Bedingungen des öffentlichen Raums, des politischen Lebens, der Demokratie und den neuen Formen der Repräsentation (parlamentarisch oder nicht), die dadurch erfordert werden, auch auf radikale Weise unangemessen ist.”

Neben den zahlreichen Parteiaustritten der letzten Jahre und dem Anwerben von Seiteneinsteigern zur Regierungsbildung (z. B. Klaus Kinkel, Werner Müller und die beiden ehemaligen Staatsminister für Kultur – Naumann und Nida-Rümelin), gibt es immer mehr Anzeichen dafür, daß die Macht der Parteien verschwindet. Die politische Partei bietet den Menschen keinen Ort, in dem sie sich repräsentiert fühlen. Das Zeitalter der Repräsentation (z. B. von bestimmten Bevölkerungsgruppen durch eine politische Partei) ist zu Ende gegangen, aber die Rede von der Repräsentation noch nicht.

Viele Berufspolitiker wissen nicht, wie sie mit den neuen Anforderungen, welche die Medien an sie stellen, zurechtkommen sollen: Telegenität und kurze prägnante Sätze, die sich gut als „Aufmacher” verkaufen lassen, werden zunehmend wichtiger. Politik wird immer mehr an Personen gebunden; welcher Partei diese Menschen angehören oder nicht, ist dagegen fast gleichgültig. Die vorher so abstrakte Partei wird auf wenige Köpfe reduziert. Die Einzel-Meinungen dieser Personen können die vielfältigen Auffassungen innerhalb der „Bevölkerung” nicht mehr repräsentieren.

4. DAS GESPENST DER ÖFFENTLICHEN MEINUNG

„Heute? Der Umriß eines Gespensts, das, was das demokratische Bewußtsein heimsucht. Das Gespenst hat Rechte und Machtbefugnisse. Doch wie läßt sich widersprüchlichen Forderungen Einhalt gebieten? Weshalb muß die parlamentarische Demokratie sich in acht nehmen vor dem, was doch der Quelle ihrer Legitimität ähnelt? Ja, Sie haben recht zu präzisieren: heute, am heutigen Tag. Denn die Frage nach dem Rhythmus, dem Medium und zunächst der Geschichte der öffentlichen Meinung ist die Frage nach dem Tag, die Tagesfrage. [...]

Der allgemeinen Meinung zufolge weist sich die >>öffentliche Meinung<< durch die Tugend oder das Laster der Unberechenbarkeit aus: Die öffentliche Meinung ist, wie es bereits [in Rousseaus] Brief an d´Alembert heißt‚ ‚lose und veränderlich‘, es ist schwer, sie zu handhaben und zu lenken. >>Würfeln<< gleich stellt sie für >>Gewalt und Vernunft<< eine Herausforderung dar. De facto und de jure kann die öffentliche Meinung sich von Tag zu Tag ändern. Sie ist buchstäblich vergänglich und hat keinen Status, weil sie nicht gezwungen ist, stabil zu sein; sie muß nicht einmal beständig unbeständig sein, da sie zuweilen über einen >>langen Zeitraum<< hinweg gleichbleibt. So besteht also die erste Zweideutigkeit in diesem Rhythmus: Verfügte die öffentliche Meinung über einen eigenen Ort (ob sie darüber verfügt, ist die Frage!), so wäre sie das Forum einer ununterbrochenen und transparenten Diskussion. Sie würde sich undemokratischen Kräften entgegensetzen, ebenfalls aber ihrer eigenen politischen Repräsentation. Diese wird ihr stets unangemessen sein; sie folgt einem anderen Rhythmus, wenn sie atmet, berät, entscheidet. Man kann auch die Tyrannei der Bewegungen, die Meinungen zum Ausdruck bringen, fürchten. Die Schnelligkeit, das >>Von-einem-Tag-zum-anderen<<, das selbst die länger anhaltenden Phasen prägt, beeinflußt die Strenge, die Schärfe der Diskussion und die Zeit der >>Bewußtwerdung<<; die Meinung wirkt sich mit paradoxer Verspätung auf die repräsentativen Instanzen aus. Man glaubt etwa zu wissen (aber wiederum aufgrund von Meinungsumfragen), daß das Problem der Todesstrafe heute im Parlament, bei einem Volksentscheid und bei soziologischen Untersuchungen und Meinungserhebungen zu unterschiedlichen Mehrheitsbildungen führen würde. An Beispielen für Unregelmäßigkeiten und Differenzen, die den Rhythmus bestimmen, fehlt es nicht. [...]

Wie soll man [...] die öffentliche Meinung identifizieren? Gibt es sie, kann man sagen, daß sie eine Stätte hat, an der sie sich bildet, an der die Bildung einer öffentlichen Meinung stattfindet oder statthat? Wo erscheint die öffentliche Meinung, wo bietet sie sich als solche dem Blick dar? Das Umherirren ihres eigenen Korpus ist auch die Allgegenwart eines Gespenstes. In keinem Raum ist er als solcher anwesend und gegenwärtig. Die öffentliche Meinung läßt sich nicht auf die Repräsentation durch die Wählerschaft begrenzen, sie ist von Rechts wegen weder mit einem Allgemeinwillen identisch noch mit der Nation, der Ideologie oder einer Summe privater Meinungen, die durch soziologische Techniken und von modernen Umfrageinstituten analysiert werden. Sie spricht nicht in der ersten Person, sie ist nicht Objekt und auch nicht Subjekt (‚wir‘, ‚man‘); man zitiert sie, beruft sich auf sie, man bringt sie zum Reden, läßt sie reden, wie ein Bauchredner es tun würde (>> das wirkliche Land<< [>>le pays réel<<], >>die schweigende Mehrheit<<, Nixons >>moral majority<<, Bushs [sen.] >>main-stream<< usw.); doch dieser >>Durchschnitt<< wahrt zuweilen die Kraft, gegen die Mittel zu opponieren, die dazu taugen, die >>öffentliche Meinung zu lenken<<, er leistet Widerstand gegen die >>Kunst, die öffentliche Meinung zu verändern<<, die – wie Rousseau in seinem Brief an d´Alembert auch schreibt‚ weder der Vernunft noch der Tugend oder dem Gesetz‘ geläufig ist.”

Jacques Derrida fordert einen Widerstand gegen die Apparate, die versuchen, die öffentliche Meinung zu steuern (durch Werbekampagnen, Talkshows, „objektive” Nachrichten und sämtliche Berichterstattungen, Kommentare in allen Medien), zu kanalisieren und zu selektieren. Polymorphe Auffassungen werden durch verschiedene Techniken so lange produziert, bis sich die öffentliche Meinung schließlich dem Willen einer Gruppe beugt (ohne es vielleicht selbst zu „bemerken”). Meinungsentwicklungen erscheinen als absehbar und planbar. Meinungen werden „fertiggemacht”, neue Identitäten gefertigt bis die so produzierte Wahrheit sich dem Machtwillen anpaßt und umgekehrt (vgl. u. a. die Euro-Debatten in Großbritannien und in anderen Ländern der EU). Die produzierte Position ist danach nur noch schwer als Einpflanzung zu erkennen, sie wird zur „eigenen” Meinung.

Es gibt aber auch eine allzu sichtbare Produktion von Meinungen: Im deutschen Parteien kommt es so lange zu Probeabstimmungen, bis das gewünschte (von wem gewünschte?) Ergebnis erzielt wird. Wer gegen die „Fraktionsdisziplin” stimmt, wird aus der Partei ausgeschlossen, es droht der Verlust des Wahlkreises. Die „Meinung” oder gar „überzeugung” des einzelnen Abgeordneten ist durchaus durch Zwangsmaßnahmen regelbar. Wer seine Meinung frei äußert und damit zur „demokratischen Meinungsbildung” beiträgt, gilt als „Aufmüpfiger”, die Partei als „chaotischer Haufen”, unfähig zu regieren oder die Genossen „auf Linie” zu bringen (vgl. die Abstimmung zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr, die mit der „Kanzler-Frage” kombiniert wurde).

Aber:

Die öffentliche Meinung drückt sich nicht aus, versteht man darunter, daß sie in einem >>Inneren<< existiert, bevor sie als solche, in ihrer Phänomenalität zutage tritt. Sie ist phänomenaler Art. Sie ist weder ein von der Presse Hervorgebrachtes, Gestaltetes, Beeinflußtes oder Gelenktes noch ein in der Presse Reflektiertes oder Repräsentiertes. Solche naiven oder grobschlächtigen Deutungen wurzeln in einem mächtigen philosophischen Diskurs.”

Die Ontologie der öffentlichen Meinung geht dem Diskurs der Presse weder voraus, noch wird sie von ihr gänzlich produziert. Es gibt auch Widerstände von verschiedenen Gruppen, die nicht von den Medien initiiert werden. Die Medien müssen schließlich auf diese reagieren. Das Gespenst der öffentlichen Meinung ist immer schon da. Es gibt keine vollkommen passiv-eingepflanzte und keine aktiv-produzierte oder spontane Meinung. Sie sind koextensiv.

5. DIE DEMOKRATISCHE MEINUNGSREGIERUNG

Eine >>Meinungsregierung<< kann sich der Meinung bedienen, sie kann sie erfinden oder sich auf sie berufen, um sich gegen vorhandene Repräsentationsstrukturen zu richten. Doch kann dies nur in einer Demokratie geschehen, mag es sich auch bloß der Form nach darum handeln. Volksdiktaturen oder ein totalitäres Regime sind keine >>Meinungsregierungen<< [...].”

Die öffentliche Meinung folgt keiner Vernunft, keinem „objektiven” Urteil (zu dem man „ja” oder „nein” sagen kann), das sich in Prozentzahlen ausdrücken ließe. Sie ist genauso abhängig vom gängigen Geschmack, den Moden usw. wie von verschiedenen Ereignissen, Revolten. Die demokratische Meinungsregierung muß diesen Entwicklungen Rechnung tragen. Gerade hier kann wirkungsvoller Widerstand einsetzen.

6. VON DER DEMOKRATIE ZUR MACHT DER MEDIENDEMOKRATIE?

Denn es geht durchaus um die Zukunft der Demokratie. Zweifellos wird das philosophisch Moderne des >>öffentlichen<< Raums oder der >>Öffentlichkeit<< von der Aufklärung markiert, von der Französischen und der Amerikanischen Revolution, von Diskursen, die wie der Kantische die Aufklärung an die Freiheit binden, einen öffentlichen Gebrauch der Vernunft auf allen Gebieten zu machen (mag auch die Vernunft nicht auf die >>Meinung<< zurückgeführt werden, die sie kritisieren muß). In der nach-revolutionären Moderne führt die von den Medien bewirkte technisch ökonomische Mutation zu einem anderen Skandieren. [...]”

Wird der >>Diskurs der Vernunft<< von der >>öffentlichen Meinung<< abgelöst? Durch das Fernsehen, Statistiken, empirische Erhebungen und Prognosen, öffentliche Diskussionen, die exemplarisch sein wollen, begreift sich das Individuum in immer globaler Zusammenhängen.

Vergegenwärtigen Sie sich die unmittelbar internationalen Auswirkungen, die das Fernsehen der allernächsten Zukunft auf eine öffentliche Meinung haben wird, die man bislang als ein nationales Phänomen betrachtet hat. Denken Sie an die Veränderungen, welche mit einer Technik der Meinungserhebung einhergehen, die buchstäblich an das Fernsehereignis geknüpft ist, ja die es allererst produziert (denken Sie an die französische Fernsehsendung >>L´heure de verité<< [>>Die Stunde der Wahrheit<<. Diese entspricht etwa den deutschen Sendungen >>Der heiße Stuhl<<, >>pro und contra<< oder >>Sabine Christiansen<<. Spitzenpolitiker werden von Journalisten befragt; danach können die Zuschauer telefonisch ihre Eindrücke über die Glaubwürdigkeit des Politikers mitteilen. Am Ende der Sendung wird ein Ergebnis bekanntgegeben, das am folgenden Tag in der Presse ausführlich kommentiert wird, M. C. J.].

Sicherlich kann eine solche Technik – wie die Presse – Minderheiten eine Stimme verleihen, die in den Institutionen nicht vertreten sind; sie kann dazu beitragen, daß Fehler berichtigt und ungerechte Zustände beseitigt werden; in keinem Fall repräsentiert jedoch eine derartige >>Demokratisierung<< die >>öffentliche Meinung<< auf legitime Weise, ohne Siebwirkung. Die >>Pressefreiheit<< ist das kostbarste Gut der Demokratie; in dem Maße indes, in dem die Gesetze und die Sitten den Fragen nicht gerecht geworden sind, die wir gerade gestellt haben, müssen diese grundlegende >>Freiheit<< und mit ihr die Demokratie noch erfunden werden. Tag für Tag. Mindestens.”

Die Technik der Meinungserhebung kann zwar Auffassungen von Minderheiten diskursivieren, doch kann die Presse niemals die öffentliche Meinung repräsentieren. Es gibt für die Auswahl ihrer >>öffentlichen Meinung<< keine Legitimität. Sie wirkt immer selektierend, ob sie will oder nicht. Die >>Pressefreiheit<< >>demokratisiert<< einerseits die Meinungsbildung, auf der anderen Seite wird sie dieser >>Freiheit<< niemals gerecht.

7. DAS RECHT AUF ANTWORT GEGENüBER DER MEDIENMACHT

Ist die Macht der Medien unbegrenzt? Auch sie werden täglich von einem Publikum bewertet, das nicht immer schweigt und stillhält. Die Macht der Medien ist heterogen; manchmal kann sie sich selber kritisieren, an den verschiedenen Stellen ihres großen Körpers. Wird sie am Ende nicht auf längere Sicht hin beurteilt, aufgrund von Kriterien, die für sie selbst unentzifferbar sind? Trägt sie nicht zu Massenerfolgen bei, die man im nächsten Augenblick bereits vergessen hat, ist sie dann nicht selber dem Vergessen geweiht? [...] Die Verantwortung – die Freiheit der Presse und gegenüber der Presse – hängt stets von der Wirksamkeit eines >>Rechts auf Antwort oder Erwiderung<< beziehungsweise >>Rechts auf Gegendarstellung<< ab, das es dem Bürger gestattet, mehr zu sein als nur der (immer weiter ins Private abgleitende) Bruchteil einer passiven >>Öffentlichkeit<< einer Öffentlichkeit, die nur aus Verbrauchern sich zusammensetzt und darum zwangsläufig beschädigt ist. Gibt es Demokratie ohne Gegenseitigkeit?

Wie kann eine solche Antwort auf die Macht der Medien aussehen? Wie kann das einzelne Individuum aus dieser Passivität ausbrechen? Welche neuen Möglichkeiten des aktiven Widerstandes gibt es? Die Presse ist auf die Meinung des Einzelnen angewiesen. Immer wieder kommt es zu einem Umschlagen in den >>Wahrheiten<< der >>öffentlichen Meinung<<. Was an einem Tag noch als existentiell und interessant galt, kann am folgenden schon vergessen sein. Die mediale Inkompetenz verschiedener politischer >>Repräsentanten<< kann auch positiv genutzt werden: Die Stimme des Einzelnen soll sich wieder äußern gegenüber der sogenannten öffentlichen Meinung, nicht bloß passiv sein; eine selbstkritische Presse sollte ihm dann auch die Möglichkeit und das Recht geben, das Wort zu ergreifen. Dieses Wechselverhältnis steht täglich auf dem Prüfstand. Dabei geht es um die Zukunft des Politischen und der Demokratie.

8. LITERATUR

Anderson, Perry: Zum Ende der Geschichte. übers. v. Christiane Goldmann. Berlin: Rotbuch, 1993.

Barthes, Roland: The Death of the Author. In: Modern Criticism and Theory: A Reader. Hg. v. David Lodge. London, New York: Longman, 1998. S. 166-172.

Bauman, Zygmunt: Wir sind wie Landstreicher. Die Moral im Zeitalter der Beliebigkeit. In: Süddeutsche Zeitung vom 16./ 17. November 1993. [Zit. n. Keupp, Heiner (Hg.): Der Mensch als soziales Wesen. Sozialpsychologisches Denken im 20. Jahrhundert. Ein Lesebuch. 2. A. München: Piper, 1998. S. 295-300.]

Derrida, Jacques: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. übers. v. García Düttmann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992.

Derrida, Jacques: Marx´ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. übers. v. Susanne Lüdemann. Frankfurt a. M.: Fischer, 1995.

Diehl, Thomas H.: Wider die Langeweile am ‚Ende der Geschichte‘. In: Das Ende der Geschichte?! Die ‚Neue Weltordnung‘ nach der Systemkonfiguration. Hg. v. Thomas H. Diehl und Carsten Feller. Gießen: Focus, 1994. S. 97-112.

Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1971. (OdD)

Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. übers. v. Walter Seitter. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt a. M.: Fischer, 1991. (ODis)

Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Berlin: Merve, 1978. (DdM)

Foucault, Michel: Schriften zur Literatur. übers. v. Karin v. Hofer u. Anneliese Botond. Frankfurt a. M.: Fischer, 1988. (SzL)

Fraser, Nancy: Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht. übers. v. Karin Wördemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994.

Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München: Kindler, 1992.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über Ästhetik II. Werke Bd. 14. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1970.

Hoffmann-Riem, Wolfgang: Politiker in den Fesseln der Mediengesellschaft. In: Politische Vierteljahresschrift. Zeitschrift der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft 1 (März 2000). S. 107-127.

Kimmerle, Heinz: Derrida zur Einführung. 2. A. Hamburg: Junius, 1988.

Meyer, Martin: Ende der Geschichte? München: Hanser, 1993.

Nietzsche: Also sprach Zarathustra und andere Schriften. Werke in drei Bänden. Bd. 2. Köln: Könemann, 1994.

Rifkin, Jeremy: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft. übers. v. Thomas Steiner. Frankfurt a. M.: Fischer, 1997.

Schmiedermair, Joachim: Die Rache des toten Autors. Gegenseitige Lektüren poststrukturaler Literaturtheorie und schwedischer Gegenwartsprosa. Freiburg im Breisgau: Rombach, 2000 (= Reihe Nordica Bd. 1).

Marc-Christian Jäger Ende 2001

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